Gemeinsam schritten sie durch die Menge, begrüßten hier und da jemanden, tauschten flüchtige Wangenküsse und leere Worte. Inzwischen hatte sich das Tanzparkett mit Paaren gefüllt. Das Orchester auf der kleinen Empore spielte einen schnellen Walzer, zu dem sich mehrere Dutzend lackierte und diamantbesetzte Schuhe bewegten. Einige Gäste hatten sich bereits an den langen Tischen niedergelassen, in Erwartung des Abendessens, doch die meisten standen in großen Gruppen beisammen und nippten an den Champagnergläsern, die die Diener unaufhörlich nachfüllten. Auf dem Büfettisch waren Kaviar-, Lachs und Schinkenhäppchen sowie Eclairs und Pralinen auf einem Meer von Kristallschalen und Silbertabletts angerichtet, in dessen Mitte die Festtagstorte thronte, achtstöckig, mit faustgroßen Sahnehauben, Karamellkirschen und einem Hochzeitspaar aus Marzipan. Die Braut trug eine winzige Nachbildung von Neveras Kleid.
Apolonia nahm sich ein Häppchen mit Preiselbeercreme und wandte sich zu Muriella um. Ihre ehemalige Klassenkameradin inspizierte die Speisen wie eine Leiche auf einem Seziertisch. Dann entschied sie sich für ein Schokoladeneclair und biss hinein.
»Hm. Oh. Schmeckt ... alt.«
»Wir haben die Eclairs von einer Pariser Bäckerei liefern lassen. Was du gerade kostest, ist eine Spezialität mit besonders hohem Kakaogehalt. Wundere dich also nicht über die herbe Bitterkeit.« Apolonia nahm zufrieden einen kleinen Bissen von ihrem Preiselbeerhäppchen. »Übrigens wollte ich dich fragen, was die Ausbildung macht. Hat sich etwas bei den Nonnen geändert? Oder dreht sich immer noch alles um lateinische Kriegsberichte?«
Ohne auf Apolonias Stichelei einzugehen, blickte Muriella in die Menge und setzte ein Lächeln auf, das, wie Apolonia bemerkte, ausnahmsweise nicht unecht war: Es entblößte Muriellas Zahnfleisch.
»Valentin!« Sie streckte den Arm aus und schlang ihn um den Arm eines jungen Mannes, der dasselbe Pferdegesicht hatte wie sie. »Apolonia, du erinnerst dich bestimmt an meinen Bruder Valentin?«
Der Ausdruck des jungen Mannes übertraf sogar Muriellas an Leblosigkeit und Langeweile.
»Wie könnte ich dieses Gesicht vergessen?« Apolonia reichte ihm die Hand.
»Valentin, das ist Apolonia Spiegelgold«, erklärte Muriella.
»Erfreut«, näselte er und hob ihre Hand flüchtig an die Lippen. Dann reckte er sich wieder und spähte in alle Richtungen.
»Valentin macht in drei Monaten sein Staatsexamen. Danach wird er Anwalt in der Kanzlei meines Vaters«, sagte Muriella. »Vater würde gerne sehen, dass er als verheirateter Mann in den Beruf eingeht, darum ist Valentin gerade auf der Suche. Aber es kommen nur die infrage, die Mutter und ich auswählen, nicht wahr, Valentin?«
»Wenn es so leicht wäre«, erwiderte er. »In unseren Rängen der Gesellschaft findet sich heute keine ehrbare Dame mehr. Und die, die noch nicht moralisch verdorben sind, sind prüde und langweilig oder abstoßend ... Ich frage mich inzwischen, ob das Heiraten in unserer Zeit der Dekadenz und Heuchelei überhaupt noch sinnvoll ist.«
Muriella tätschelte ihrem Bruder beschwichtigend den Arm. Dann tauchten zwei Männer neben ihnen auf, deren blasierte Blicke Valentins verblüffend ähnlich waren. Sie stellten sich als Studenten und Freunde Valentins vor.
»Bildung!«, schwärmte Muriella mit einem leuchtenden Seitenblick auf einen der beiden Neuankömmlinge. »Wie hochinteressant! Soeben haben Apolonia und ich davon gesprochen, nicht wahr? Was hast du mich noch gefragt? War es nicht irgendwas Lateinisches?«
Apolonia machte gerade den Mund auf, als ihr Valentin ins Wort fiel.
»Numquam patietur, mihi credite. Novi violentiam, novi inpudentiam, novi audaciam. Das ist von Cicero und bedeutet: Niemals wird er das zulassen, glaubt mir! Ich kenne seine Gewalt, seine Unverschämtheit, seine Kühnheit. Dieser Spruch bezieht sich natürlich auf mich und Vaters Wunsch, dass ich heirate.«
Valentins Freunde klatschten leise in die Hände und schenkten ihm ein anerkennendes Lächeln.
»Hm«, machte Apolonia. »Seine Unverschämtheit. Amüsant.«
»Latein ist zweitausend Jahre die Sprache der Könige und Gelehrten gewesen«, fuhr Valentin fort und betrachtete seine Fingernägel.
»Und nun ist Latein die Sprache der Toten.« Apolonia lächelte.
»Valentin, du musst verstehen«, schaltete sich schnell Muriella ein, »Apolonia war nie besonders herausragend in Latein. Sprachen sind wohl einfach nicht ihre Stärke ...«
»Nun«, sagte Apolonia ungehalten, »Myeddra senviel arth vera sena.«
»Wie bitte?« Valentin und seine Freunde runzelten die Stirn. Muriella neigte leicht den Kopf nach vorne und stierte Apolonia mit dem Verständnis eines Wildschweins an.
»Irvena senja noviel arth; mora nevra evell turo madva, sevell misuro ectera vera nivio mac renyo seva dina reh.« Sie holte tief Luft. »Das ist alles, was ich dazu zu sagen habe.«
»Und welche Sprache soll das gewesen sein?«, fragte einer von Valentins Freunden.
»Natürlich kann ich nicht erwarten, dass Sie das wissen. Soeben sind Sie in den Genuss gekommen, Morveda zu hören, eine südamerikanische Sprache, die vor allem im tropischen Raum weit verbreitet ist, ihre Wurzeln aber weiter im Norden hat und mit zahlreichen weiteren Ursprachen verwandt ist.«
»Und wollen Sie uns auch verraten, was Sie soeben gesagt haben?« Valentin nahm einen Schluck Champagner.
»Ich nannte Sie einen Fanfaron, der, verglichen mit vergleichsweise ähnlich fadisierenden Verwandten, viel vermögender und infolgedessen befähigt ist, frevelhaftes Fehlverhalten im großen Format an den Tag zu legen«, rasselte Apolonia in einem Atemzug runter.
Mehrere Augenblicke lang schwiegen alle.
»Ah. Beeindruckend.« Ein Lächeln kroch über Valentins Pferdegesicht. »Sie können also, nach langen Studien, wie ich vermute, primitive Barbaren verstehen, die am anderen Ende der Welt im Dschungel leben.«
»Glauben Sie mir, ich kann auch primitive Barbaren in meiner unmittelbaren Nähe verstehen, und ein Verständnis für das Primitive ist fürwahr eine Kunst. Vielen Dank. Entschuldigen Sie mich nun, meine Tante wartet.« Damit drehte Apolonia sich um und ging beschwingten Schrittes davon.
Es war ein Armutszeugnis, wenn man eine aus dem Stegreif erfundene Sprache für echt hielt, die »Morveda« hieß, aber wenn man nicht mal merkte, dass man in seiner eigenen Sprache ein langweiliger Prahlhans genannt wurde, war das mehr als bedauernswert.
Das muss ich in meine Memoiren aufnehmen, dachte Apolonia amüsiert. Kein Wissen der Welt nützt etwas ohne den Mut zum Bluffen!
Lieferung in der Nacht
Nevera Spiegelgold stand, umringt von ihren Gästen, unter den glitzernden Kronleuchtern und unterhielt sich blendend. Hin und wieder tanzte sie mit Elias Spiegelgold und die restlichen Tanzpaare bildeten einen ehrerbietigen Kreis um sie; dann ließ Nevera sich wieder von den schmeichelnden Worten ihrer Freunde einlullen. Als sie Apolonia in der Menge entdeckte, winkte sie sie zu sich heran.
»Gerade eben haben wir von dir gesprochen, Liebes«, sagte sie, nachdem alle Anwesenden ihre Bewunderung für Apolonias Kleid ausgedrückt hatten.
»Es ist wirklich so großzügig«, sagte eine spitznasige Frau mit dunklen Haaren, die, soweit Apolonia sich entsann, mit dem Herzog von Helmskolm verheiratet war. »Das Mädchen und den Vater aufzunehmen, nachdem diese grässliche Tragödie passiert ist ... Nevera, du hast ein zu gütiges Herz.«
Nevera vollführte eine bezaubernde Handbewegung. »Gott sei Dank verfügen wir über die finanziellen Mittel, um meiner Nichte die beste Bildung zu ermöglichen. Um ihren gesellschaftlichen Schliff und die Entwicklung ihres Charakters kümmere ich mich selbstverständlich persönlich.«