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Die Blicke der Anwesenden hingen an Apolonia wie an einem besonders interessanten Schmuckstück.

»Und wie geht es Alois?«, fragte ein Mann im schwarzen Frack. Da Nevera ausnahmsweise in Schweigen verfiel und an ihrem Champagner nippte, antwortete Apolonia: »Es geht ihm ausgezeichnet. Momentan lebt er sehr zurückgezogen und hat sich den Studien gewidmet, die ihn schon immer interessiert haben: Literatur, Philosophie und natürlich Physik, eine seiner verborgenen Leidenschaften.«

Der Mann im Frack nickte langsam.

»Wann wird er sich wieder in der Öffentlichkeit zeigen?«, erkundigte sich eine Frau, die über und über mit Pfauenfedern besteckt war.

»Das vermag ich nicht zu beantworten«, erwiderte Apolonia, nachdem sie sich vom Anblick des Federkostüms losgerissen hatte. »Er trauert noch um meine Mutter.«

Ein zustimmendes Gemurmel folgte. »Magdalena!«, seufzten manche. »Sie war viel zu jung zum Sterben.«

»Wir werden sie niemals vergessen.«

Apolonia drehte sich um, um zu sehen, wer das gesagt hatte, und blickte in das Gesicht eines hochgewachsenen Mannes. Seine dunklen Haare waren glatt zurückgekämmt und reichten ihm bis zu den Schultern; die Augen hatten etwas an sich, das Apolonia einen Schauder über den Rücken jagte. Sie waren tief unter den Augenbrauen versunken und blitzten dunkelgrün aus den schattigen Höhlen hervor. Erst nach mehreren Sekunden wurde ihr klar, wieso sie so starr wirkten: Der Mann blinzelte kaum, seine Lider hingen schwer über den Augen und gaben ihm einen schläfrigen, geheimnisvollen Ausdruck.

»Nevera. Sie haben die machtvolle Ausstrahlung einer Königin und das liebliche Leuchten einer Nymphe.« Der Mann nahm Neveras ausgestreckte Hand entgegen und küsste sie vornehm.

»Die Worte eines Dichters!«, gluckste Nevera verzückt. »Schön, dass Sie gekommen sind.«

Der Mann wandte sich Apolonia zu. »Und du bist also die Tochter der schönen Magdalena Spiegelgold. Die Ähnlichkeit ist kaum zu übersehen. Sie hatte dieselben Augen wie du.«

»Apolonia, das ist Jonathan Morbus«, stellte Nevera den Mann vor. Etwas in Apolonia gefror innerhalb von Sekundenbruchteilen zu Eis. Wie sich herausstellte, war es ihr Sprachvermögen.

»Ich habe ... nun, ich ... ich bin erfreut.« Tausend, tausend Dinge wollte sie sagen; Dinge über das Buch, die in ihrem Inneren pochten wie ihr Herz. Aber nichts kam ihr über die Lippen.

»Dein Vater ist mir nicht weniger bekannt als deine Mutter«, fuhr Morbus fort und verschränkte die Hände hinter dem Rücken. »Ihm und Buchhandel Spiegelgold habe ich zu großen Teilen mein bescheidenes Vermögen zu verdanken. Daher freue ich mich, dass es ihm gut geht, und ich hoffe, ihn bald wiederzusehen.«

»Gestern Nacht habe ich eines Ihrer Bücher gelesen«, sagte Apolonia endlich. »Es war eines der wenigen, die aus den Trümmern geborgen werden konnten.«

In den Augen des Schriftstellers blitzte es. »So? Welches denn? Ich habe inzwischen vier Veröffentlichungen.«

»Es hieß Das Mädchen Johanna. Es war ... beeindruckend. Nie habe ich etwas Derartiges gelesen«, gestand Apolonia. Auch die Umstehenden, deren Zahl seit Morbus’ Erscheinen entschieden gewachsen war, verkündeten nun ihre Bewunderung.

»Wie haben Sie das gemacht?«, fragte Apolonia. »Wie haben Sie es geschafft, dass Ihr Buch so viel mehr ist als ... ein Buch?«

Jonathan Morbus erwiderte mehrere Momente lang ihren Blick. Das Grün seiner Augen hatte etwas ... etwas Merkwürdiges. Etwas Angsteinflößendes. Apolonia fühlte sich plötzlich seltsam entblößt und trat einen kleinen Schritt zurück. Wieder glitt ein Glänzen durch seine Augen.

»Meine Bücher finden so viel Gefallen, weil sie wahr sind«, erklärte er. »Menschen erspüren die Wirklichkeit, und nur was wahr ist, können sie lieben.«

»Wahrheit ist Schönheit, Schönheit Wahrheit, das hat John Keats gesagt«, fiel Apolonia ein. Dieser Aussage hatte sie bis jetzt nie große Bedeutung beigemessen, aber immerhin schenkten ihr die Anwesenden anerkennende Blicke. Jonathan Morbus runzelte kaum merklich die Stirn. »Verzeihung, darf ich fragen, wie alt du bist?«

»Einundzwanzig«, erwiderte Apolonia. »In fünf Jahren. Das erste Lebensjahr im Mutterleib mitgezählt.«

Einige lachten. Auch Morbus verzog die Lippen zu einem Lächeln. »In der Tat, du bist Magdalenas Tochter. Offenbar hast du nicht nur ihre Augen, sondern auch ihren Charme.«

Charme - sie? Fast hätte Apolonia gelächelt. Dabei machte ihr Herz einen Hüpfer.

»Ist das nicht verrückt?«, schaltete sich Nevera wieder ein und machte einen Schmollmund, um die Aufmerksamkeit endlich wieder auf sich zu ziehen. »So vieles ist vor genau acht Jahren geschehen, Glücksfälle wie unsägliche Katastrophen. Es war in der Tat ein schicksalhaftes Jahr. Meine arme Schwester Magdalena wurde in der Blüte ihres Lebens aus dem Kreis ihrer Lieben gerissen. Dann gab es den Putschversuch des TBK, der uns fast die gelobte Demokratie gekostet hätte. Glücklicherweise waren diese düsteren Tage aber auch nicht ohne Sonnenstrahlen, wie den Aufstieg meines lieben Elias, wohl verdient, weil er dafür gesorgt hat, dass diese furchtbaren Terroristen ihre rechtmäßige Strafe erhalten, und unsere bescheidene Hochzeit. Nicht zu vergessen das Debüt von Ihnen, Jonathan: vor acht Jahren hatten Sie Ihre erste Romanveröffentlichung, nicht wahr?«

Morbus lächelte wie geölt. »Angesichts der anderen Ereignisse, die dieses Jahr geprägt haben, ist das wohl kaum erwähnenswert.«

»Die Bescheidenheit steht Ihnen gut, Herr Morbus«, schaltete sich eine rundliche junge Dame ein, die nervös mit ihrem Fächer wedelte und Morbus schmachtend ansah. »Doch ich erlaube mir zu behaupten, dass Sie falschliegen. Ihr Debüt war ein Ereignis, das sich mit allen Putschversuchen, Revolutionen und Schicksalsschlägen in der Geschichte messen kann. Das Erscheinen Ihres ersten Romans, Der Junge Marinus, markiert den Beginn einer neuen Ära in der Literatur! Ich habe Der Junge Marinus wieder und wieder gelesen, und jedes Mal hat es mich erneut in seinen Bann gezogen und zu Tränen gerührt. Sie - Sie sind ein Genie ...«

Der Schriftsteller ergriff sachte die Hand der jungen Dame. »Sie bringen mich in Verlegenheit, Agnes.«

Agnes schien auf dem Fleck zu einer Pfütze heißer Butter zu schmelzen und starrte Morbus aus glitzernden Augen an, bis Apolonia beschloss, ihren magischen Moment zu beenden: »Um was geht es in Der Junge Marinus, wenn ich fragen darf?«

Morbus ließ die Hand der jungen Dame wie einen leblosen Fisch aus seiner gleiten und lächelte Apolonia freundlich an. »Nichts würde ich dir lieber erzählen, doch ein Buch in wenige Worte zu fassen, ist so, als müsste man die gesamte Anatomie eines Menschen von den Zehenknochen bis zu den Gehirnwindungen in einem Satz erklären. Aber ich schicke dir gerne ein Exemplar vom Jungen Marinus, wenn du die Geschichte lesen möchtest.«

»Oh - schon neun Uhr!«, rief Nevera in einem neuerlichen Versuch, das Interesse der Anwesenden auf sich zu lenken. »Das Abendessen müsste bald aufgetragen werden. Wollen wir uns setzen?«

Morbus bot ihr seinen Arm, dann nickte er Apolonia noch einmal zu und lächelte. Apolonia spürte merkwürdigerweise nicht, mit welchem Gesichtsausdruck sie seinen erwiderte, doch sie hatte das fahle Gefühl, einen ziemlich belämmerten Eindruck zu machen. Dann hatte Morbus sich abgewandt und Nevera schritt wie eine schnurrende Katze mit ihm zu Tisch.

Apolonia hatte selten so üppig gegessen. Nach sieben Gängen und einem Tortenstück hatte sie das Gefühl, aus ihrem Kleid zu quellen wie ein Schinken. Dass sie den Tod der dreiundfünfzig Hummer vereitelt hatte, schien niemanden zu stören: Es gab genug Speisen, um eine Armee satt zu bekommen. Als die ersten unermüdlichen Tänzer sich wieder erhoben und die Tanzfläche füllten, beschloss Apolonia, das Weite zu suchen. Sie blickte noch einmal zu den Tischen zurück, bevor sie die Wendeltreppe emporstieg. Ihre Tante saß mit Jonathan Morbus und drei weiteren Männern zusammen und scherzte ausgelassen. Ihr Onkel war nirgends zu sehen. Wahrscheinlich hatte er sich bereits in einen der Salons zurückgezogen, um mit seinen Partnern und Kollegen zu plaudern.