Apolonia stieg die Stufen hinauf und bog rechts in den Korridor ein. Der fröhliche Lärm des Festes wurde von Schritt zu Schritt verschwommener. Sie ging eine zweite Treppe am Ende des Korridors hinauf und brachte einen weiteren Flur hinter sich. Vor ihr lag ein dunkler Korridor. Vorsichtig drückte sie die Klinke der letzten Tür hinunter und trat ein.
Ihr Vater lag schlafend und vollständig angezogen in seinem Himmelbett. Apolonia setzte sich neben ihn. Mondlicht fiel durch die Fenster. Die Schatten der Bäume schwebten geisterhaft über die Zimmerwände und über das sorgenvolle Gesicht von Alois Spiegelgold. Er sah ganz normal aus. So wie früher. Fast glaubte Apolonia, wenn er nun aufwachte, sei er wieder der alte Alois. Er würde sie so ansehen wie früher und die Zornesfalte zwischen seinen Brauen würde bei ihrem Anblick schwächer und der eiserne Blick seiner Augen milder werden, er würde sie wieder in die Arme schließen und ihr auf die Schultern klopfen und »meine Apolonia« sagen. »Meine Apolonia. Bei deinem Köpfchen wird dir mal die ganze Welt gehören. Nutze deine Gaben.«
Apolonia atmete flach aus. Er würde nicht aufwachen. Auf dem Nachttisch neben seinem Bett stand die leere Teetasse. Er hatte das Schlafmittel ausgetrunken und würde bis morgen Nachmittag durchschlummern wie ein Baby. Dass er den Hochzeitstag seines Bruders und der Schwester seiner Frau verpasst hatte, würde er nie erfahren. Er würde nie erfahren, dass seine Tochter dafür gesorgt hatte.
Apolonia wischte sich verstohlen eine Träne aus den Augenwinkeln. Verflucht. Tränen nutzten gar nichts.
»Auf Wiedersehen, Papa«, flüsterte sie. Und blieb doch noch eine Weile reglos sitzen, während die Schatten der Bäume über das Gesicht ihres Vaters schwebten.
Ziellos spazierte Apolonia durchs Haus. Manchmal schwoll der Lärm des Festes an und Apolonia wechselte die Richtung; dann wieder war es rings um sie so ruhig, als sei niemand mehr außer ihr da.
Im Gehen löste sie ihren Haarkranz, denn Trude hatte ihn zu straff gebunden und mittlerweile ziepte ihre Kopfhaut. Nachdenklich zwirbelte sie die Spitzen und musste an früher denken, als ihr Vater noch gesund gewesen war ... Der etwas knochige Mann, der am dunklen Arbeitstisch saß, duftend nach frisch bestellten, ungelesenen Büchern, umstrahlt vom sanften Licht der Tischlampe und der Ruhe eines versunkenen Lesers ... Und ihr kamen Bilder von ganz früher, als ihre Mutter noch gelebt hatte. Nur wenige Erinnerungen an sie waren ihr geblieben. Manchmal vergaß sie sogar diese wenigen und schämte sich, wenn sie ihre eigene Vergesslichkeit bemerkte. Dabei fiel ihr ein, dass sie unbedingt an ihren Memoiren weiterschreiben musste. Niedergeschriebene Schrift vergisst nicht, Menschen schon.
Apolonias Gedanken schweiften zu Jonathan Morbus.
Morbus. Eine geheimnisvolle Anziehung war von ihm ausgegangen. Etwas, was ein halb zerfallenes Bild aus der Vergangenheit in ihr wachrief - oder vielleicht eine vage Zukunftsahnung? Sie schüttelte den Kopf. Unsinn. Gewiss kam er ihr so merkwürdig vertraut vor, weil er ein herausragendes Talent war und Apolonia dementsprechend an sich selbst erinnerte.
Plötzlich hörte sie etwas. Leise Stimmen. Apolonia sah sich um - wo war sie überhaupt? An den dunklen Holzvertäfelungen der Wände erkannte sie, dass hier die Arbeitszimmer ihres Onkels lagen.
Wieder hörte sie Stimmen, ganz schwach. So weit ins Haus hätten sich doch keine Gäste verirren können. Oder waren da Dienstmädchen, die sich vor der Arbeit drückten?
Apolonia schlich den Stimmen nach. Sie bog in einen kleinen Seitenflur mit einem Erkerfenster. Zwei Zimmer lagen sich gegenüber. Die Tür des einen war einen Spaltbreit offen. Matter Lampenschein fiel in den Flur. Apolonia spähte hinein.
Elias Spiegelgold stand an seinem Schreibtisch und hielt ein braunes, zugeschnürtes Paket in den Händen. Vor ihm stand eine zweite, schmalere Gestalt: ein Junge mit blonden Haaren in einem zerschlissenen dunkelgrünen Jackett. Seinem dürftigen Erscheinungsbild nach zu urteilen, gehörte er nicht zu den Gästen. Apolonia hatte ihn noch nie gesehen.
»Dein Auftraggeber arbeitet schnell«, sagte Elias Spiegelgold. Er nahm einen silbernen Brieföffner vom Tisch und zerschnitt die Paketschnüre. Der Junge deutete eine Verneigung an, dann ließ er den Blick durchs Zimmer wandern. Apolonia beugte sich rasch zurück; einen Moment später lugte sie wieder durch den Türspalt. Inzwischen hing der Blick des Jungen an den vergoldeten Kerzenständern über dem Kamin.
»Mone Flamm ist für Schnelligkeit bekannt und bei der Arbeit gewandt. Steht auf seiner Visitenkarte«, sagte der Junge.
Apolonia durchsuchte sämtliche ihrer Erinnerungen nach dem Namen Mone Flamm, doch sie hatte ihn noch nie gehört.
Elias Spiegelgold hatte inzwischen das Paket geöffnet und zog eine Mappe aus schwarzem Leder hervor, die er eilig aufschlug. Soweit Apolonia es erkennen konnte, befanden sich mehrere Dokumente darin. Elias Spiegelgold überflog sie und machte die Lippen schmal. Als er fertig war, klappte er die Mappe wieder zu. »Und du bist dir ganz sicher, dass das stimmt?«
Der Junge legte eine Hand aufs Herz und neigte abermals den Kopf. »Ich bin bloß der bescheidene Überbringer des Berichts. Aber aus Erfahrung kann ich sagen, dass Meister Flamm sich nie irrt. Übrigens haben Sie wirklich ein sehr schönes Haus.«
»Ja, danke.« Elias Spiegelgold schwieg mehrere Augenblicke. Dann straffte er den Rücken und zog sein Portemonnaie aus der Westentasche. Er übergab dem Jungen drei Scheine und nach kurzem Nachdenken einen vierten.
»Ich danke Ihnen, Herr Spiegelgold.« Als Elias Spiegelgold ihn scharf ansah, lächelte der Botenjunge. »Verzeihen Sie, mein Herr. Ich habe Ihren Namen bereits vergessen. Das Geld in meiner Hand habe ich auf der Straße gefunden.«
»Schön. Versuche, kein Aufsehen zu erregen, wenn du gehst. In drei Minuten komme ich noch mal zurück, dann erwarte ich, dass du fort bist.«
Wieder neigte der Junge den Kopf. Elias Spiegelgold drückte die Mappe an sich und verließ das Zimmer durch den anliegenden Salon. Der Junge blieb stehen.
Irgendwo schloss sich eine Tür; dann war Elias Spiegelgold verschwunden. Der Botenjunge steckte sich das Geld ins Jackett und schritt um den Schreibtisch herum. Sein Blick glitt über die ordentlichen Papierstapel, den silbernen Füllfederhalter, den Siegelstempel. Er strich zum Kamin, fuhr mit dem Finger über den Kaminsims und betrachtete verwundert seine Fingerspitze, an der kein Staubkorn hing. Lange sah er die goldenen Kerzenständer an.
Apolonia spürte Ärger in sich aufsteigen. Dieser Landstreicher konnte doch nicht einfach so im Büro ihres Onkels herumspazieren!
Plötzlich wandte er sich um und blickte zur Tür, als könne er direkt hindurchsehen. Apolonia trat mehrere Schritte zurück - und stieß gegen eine kleine Kommode. Die Blumenvase, die darauf stand, gab ein dumpfes Poltern von sich, als sie gegen die Wand fiel; dann kippte sie um, kaltes Wasser ergoss sich auf den Teppich und die Vase plumpste zwischen Apolonias Händen hindurch zu Boden.
»Fräulein Spiegelgold!« Ein Dienstmädchen blieb ein Stück entfernt im Flur stehen und starrte verwundert auf die Vase, die ihr vor die Füße rollte.
Die Zimmertür schwang langsam auf und aus den Augenwinkeln sah Apolonia den Jungen im Türrahmen stehen.
»Sieh, was du angerichtet hast!«, rief Apolonia und wies barsch auf das verdutzte Dienstmädchen. »Bring das sofort wieder in Ordnung, du tollpatschiges Ding, hast du gehört?«