Der Mann stürzte ans Fenster, riss es auf und lehnte sich hinaus. Kühle Nachtluft strömte ihm entgegen. Zwischen seidigen Wolken schwamm der Vollmond am Himmel, sonst war alles wie mit Tinte übergossen.
Hinter ihm scharrten Krallen über den Fußboden, dann waren drei Doggen am Fenster und bellten hinaus.
»Herr Professor! Was ist passiert, Professor Ferol?« Zwei Dienstmädchen eilten herbei.
»Da - da hängt der Einbrecher! Magda, ruf die Polizei, schnell!«, rief Professor Ferol. Das Dienstmädchen lief los.
Der Junge hing mit einer Hand am Regenrohr und schob den Hosenträger über seine Beute, um sie zu befestigen. Professor Ferol erbleichte, als er das Buch erkannte. »Gib das zurück, du - du Rotzbengel! Hier kommst du nicht weg!«
Der Junge blickte in die Tiefe. Unter ihm lag ein Innenhof - Fenster starrten ihn ringsum wie leere Augenhöhlen an - gegenüber schimmerte ein Eisentor unter der einzigen Laterne im Hof - und dahinter lag eine Straße.
»Gib her!« Ferol hatte sein Bein zu fassen bekommen. Dem Jungen entfuhr ein gedämpfter Schrei, er riss sich los und glitt ab - gerade noch konnte er sich festhalten. Seine Handflächen brannten, als er ein Stück hinunterrutschte. Die Bibliothek befand sich im fünften Stock.
Ohne Ferol zu beachten, kletterte er das Regenrohr hoch. Professor und Dienstmädchen staunten, so flink zog er sich empor. Dann war er am Dach angekommen, stemmte sich hoch, begann, über die lockeren Ziegel zu sprinten, bis er die Dachspitze erreichte. Sirenen heulten. Unten hielten zwei nachtschwarze Polizeiwagen. Männer liefen auf das Haus zu.
»Da oben!« Ein Polizist deutete zu ihm herauf. Bald sahen auch die anderen die Silhouette auf dem Dach. Der Junge taumelte zurück und duckte sich. Aus dem Bibliotheksfenster drangen schwere Schritte, dann Stimmen. Lichter glommen in den Fenstern auf und füllten sie mit Leben.
»Er ist da oben!« Es war Ferols Stimme. »Da oben sitzt er in der Falle!«
Ein Polizist verrenkte sich fast den Hals, um zu ihm hinaufzuspähen, und fingerte eine Pistole aus seinem Gürtel. »Bleib stehen, Junge! Du bist festgenommen!«
Sein Arm schwenkte durch die Luft, um die Balance zu halten. Seine Schuhe ragten über den Abgrund.
»Wirf mein Buch runter!«, brüllte Ferol so aufgebracht, dass ihm die Schnurrbartspitzen zitterten. »Da, er hat mein Buch! Ich will mein Buch!«
Der Junge richtete sich auf. Der Nachtwind bauschte seine Jacke auf und strich ihm das Haar ins Gesicht. Seine Faust schloss sich um den Ledereinband.
»Was - was macht er da -«
Jetzt.
Er breitete die Arme aus und sprang.
Der Schrei des Dienstmädchens, das Hundegebell, die verblüfften Rufe der Polizisten, alles verzerrte sich und verschwamm zu einem fernen Echo. Die Tiefe riss vor ihm auf wie ein schwarzer Schlund.
Aus dem Fenster der Bibliothek sah man nur das dunkle Knäuel, zu dem er sich zusammengerollt hatte, und die Buchseiten, die gegen den Wind flatterten.
Dann ein dumpfer Aufprall. Es klang wie splitternde Steinfliesen, wie brechende Knochen.
Professor Ferol keuchte. »Er ist tot!«
Der Polizist wischte sich mit dem Ärmel über die Stirn. Die Stille sirrte ihnen lähmend und schwer in den Ohren. »Also ... dann werden wir einen Leichenwagen her-«
Das Dienstmädchen kreischte auf und wies aus dem Fenster.
Alle beugten sich wieder hinaus. Der Innenhof lag menschenleer wie der Grund des Ozeans unter ihnen. Aber am Tor - huschte eine Gestalt in den fahlen Lichtschein der Laterne. Die Doggen begannen zu winseln.
»Das ist ... unmöglich ...« Professor Ferol kniff die Augen zweimal zu. Aber es bestand kein Zweifel. Der Junge, der gefallen war, der Junge, der tot sein musste, kletterte leichtfüßig an den Eisenstangen empor, stand einen Augenblick lang geduckt auf den Torspitzen und sprang auf die Straße. Er landete auf Händen und Knien und rannte davon.
Vampa hinkte. Beim Aufprall waren die Bodenplatten zersplittert und ein spitzes Steinstück hatte sich in sein Knie gebohrt. Seine Rippen waren zerschmettert. Sein linkes Schlüsselbein, sein Oberarm, das rechte Schienbein und die meisten seiner Finger waren gebrochen. Doch jeder Schritt entfernte ihn weiter vom Schmerz.
Das Buch war fast unversehrt, lediglich ein paar Seiten in der Mitte waren zerknittert und Blutflecken verdunkelten den Einband.
Die Straßen waren wie ausgestorben. Manchmal hörte er das Rollen einer Kutsche und klappernde Pferdehufe auf dem Kopfsteinpflaster und ab und zu das laute Brummen eines Automobils. Dann änderte er die Richtung und lief fort, bis die Geräusche verebbten. Die Straßenlaternen setzten dottergelbes Licht in die Nacht und Vampa machte einen weiten Bogen um sie. Als er den Fluss erreichte und ein Stück am Park vorbeikam, schien alles noch viel einsamer. Nur die sanften Wellen murmelten, und die Falter umschwirrten die Gaslampen, dass ein feines Knistern und Surren in der Luft hing. Manche von ihnen kamen zu nahe an die Flammen heran, sodass hier einer, da einer mit zuckenden Fühlern und rauchenden Flügeln zu Boden schwebte.
Vampa schleppte sich über eine breite Brücke. Am liebsten wäre er zusammengesunken und hätte das Buch aufgeschlagen - oder wenigstens stehen geblieben, um das Buch anzusehen -, aber das ging nicht. Nicht solange er hier draußen war.
Anstatt dem Gassenlabyrinth vor ihm zu folgen, stieg er das steinige Ufer hinab zum Fluss, den der Mond wie ein fließendes Seidenband durch die Stadt ziehen ließ.
Eine Weile folgte er dem Wasser. Bald mischte sich ein fauliger Gestank in die Luft, denn in der Nähe waren Abflussrohre. Vampa war den Geruch gewöhnt und empfand ihn fast wie eine Begrüßung. Er kam zu einem Kanalschacht, der neben den Rohren in die Mauer eingelassen war; Ratten tummelten sich im Dunkel und flohen, als er näher kam. Er musste sich an den Rohren vorbeizwängen und durch einen Vorhang herabtröpfelnden Wassers treten, dann war er in einem niedrigen Betonviereck angekommen und hörte lautes Rauschen. An der hintersten Wand war eine Leiter, die durch ein Loch in die Tiefe führte. Trotz der Dunkelheit fand Vampa sie problemlos und stieg hinab, das Buch an die Brust gedrückt.
Hier war alles rabenschwarz. Er ließ die Leiter los und tastete sich um eine Ecke. Das Brausen der Abflussrohre klang nun gedämpft. Auch der Gestank war halbwegs verflogen, es roch nur noch feucht und ein bisschen schimmelig.
Endlich fand Vampa die Streichhölzer und zündete eins an. Der Schacht füllte sich mit hüpfenden Schatten. Dann entfachte er eine Petroleumlampe und pustete das Hölzchen aus. Die Schatten beruhigten sich und gleichmäßiges, traniges Gelb ließ sich auf allem nieder.
Der Raum - wenn man diesen Unterschlupf so nennen konnte - wurde von einer zerfledderten Matratze eingenommen, einem Haufen brauner Armeedecken, einer Obstkiste, die als Tischchen diente, und Büchern.
Es waren unzählige Bücher. Sie lagen überall, bepflasterten den schmuddeligen Boden, türmten sich an den Wänden auf, dass man die fleckigen Wasserschatten dahinter nicht mehr sehen konnte, stapelten sich auf der Matratze und der Holzkiste und waren über die Decken verstreut. Es waren Taschenbücher, deren roter Umschlag abgewetzt und feucht geworden war, aber auch schwere Folianten, gebunden in rotes Leinen oder in Leder mit geheimnisvollen Prägungen, deren Seiten so vergilbt waren, dass sie aussahen wie aus einem längst vergangenen Jahrhundert. Wasser, das von der Decke herabtröpfelte und Adern auf die Wände malte, durchnässte die Bücher, weichte das Papier auf und machte die Einbände morsch. Auch der Schimmel hatte vor Tinte und Dichtkunst keinen Halt gemacht.
Nur über der Matratze war ein kleiner Fleck buchfrei geblieben: Hier war ein Spiegel an die Wand gelehnt, durch dessen Mitte ein langer Riss ging.
Vampa trat ein paar Bücher weg und ließ sich vorsichtig auf die Matratze sinken, um seinem Spiegelbild einen Blick zuzuwerfen. Seine Lippe war aufgesprungen. Er versuchte, den Mund so schmerzfrei wie möglich aufzumachen, und sah, dass sein oberer Vorderzahn abgesplittert war. An seinem Kinn prangte eine dunkelblaue, fast schwarze Prellung mit einer blutigen Platzwunde in der Mitte. Mit ein wenig Fantasie hätte man meinen können, er habe sich mit Ruß einen Ziegenbart malen wollen.
Vampa wandte sich vom Spiegel ab. Der Schmerz war vollkommen nebensächlich; statt seiner blutigen Fingerknöchel starrte er das große, schwere Buch auf seinem Schoß an.
Oder ob er doch erst warten sollte, bis es ihm besser ging? In diesem Zustand wollte er schließlich nicht bleiben, sollte das Buch tatsächlich ...
»Ach was«, murmelte er. Die Ungeduld war viel stärker als alles andere.
Er klappte behutsam den Deckel auf. Die erste Buchseite war leer. Die zweite auch. Auf der dritten standen ein Titel und der Name des Schriftstellers. Bevor er die Buchstaben las, durchströmte ihn eine jähe Hoffnung. Die Schrift, die dunkelrote Tinte - das alles war richtig! Ein Volltreffer! Eins von den Blutbüchern ... Während der ganzen, furchtbaren Jahre hatte er nur zwei gefunden. Zwei falsche. Dies war das dritte. Seine Finger begannen zu zittern. Langsam las er, Wort um Wort ...