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Ohne die Reaktion des Dienstmädchens abzuwarten, fuhr Apolonia zu dem Jungen herum.

»Nun?«, fragte sie unwirsch. »Was gibt es hier zu sehen?«

»Das habe ich mich auch gerade gefragt«, erwiderte der Junge und beobachtete, wie das Dienstmädchen die Blumen aufklaubte.

Apolonia strich sich in einer, wie sie hoffte, gebieterischen Geste das Kleid glatt. »Also. Der Dienstbotenausgang befindet sich in dieser Richtung.« Sie wies dem Jungen mit ausgestrecktem Zeigefinger den Weg.

Er hob spöttisch die Augenbrauen. »Danke.« Und er schenkte dem Dienstmädchen - zu Apolonias Empörung - ein Augenzwinkern. »Dann weiß ich ja jetzt, wo ich deinem hübschen Dienstmädchen noch mal begegnen kann.«

Apolonia öffnete entrüstet den Mund; doch da war der Junge schon ans Erkerfenster getreten. Er warf ihr einen letzten Blick zu und grinste, dass sie seine schiefen Eckzähne glänzen sah. Dann flog das Fenster auf und er sprang hinaus. Das Dienstmädchen stieß einen erschrockenen Laut aus. Ein kalter Luftzug brauste ihnen entgegen und blähte die Gardinen auf.

Apolonia stockte. Wie war das Fenster plötzlich aufgegangen? Nach kurzem Zögern lief sie hin und beugte sich hinaus. Zwei Meter tiefer sprang der Junge von der stuckverzierten Außenwand. Apolonia sah ihn durch den Schein einer Straßenlampe huschen. Dann war er in der Nacht verschwunden.

»Hast du das gesehen?«, fragte sie das Dienstmädchen stotternd.

Die junge Frau umklammerte die Blumenvase. »Ich, ich weiß nicht, Fräulein Spiegelgold. Wer war das?«

Apolonia musterte das Dienstmädchen einen Moment lang, dann lief sie an ihm vorbei. Ihre Gedanken überschlugen sich. Als sie in ihrem Zimmer ankam, schloss sie die Tür und lehnte sich dagegen. Ihre Hände zitterten.

Das Fenster - es war plötzlich offen gewesen. Der Junge ... Konnte das sein? Hatte sie sich nicht getäuscht? Aber was hatte das alles zu bedeuten - und was hatte ihr Onkel damit zu tun?

Zusammenhänge ... sie brauchte Zusammenhänge.

Rot

So fing es an.

Im rieselnden Schnee hatte ein Junge gelegen. Vielleicht lag er schon lange so da. Die Eiskrusten auf seinen Kleidern verrieten, dass es mindestens eine Nacht gewesen sein musste - die blau angelaufenen Fingernägel ließen auf mehrere Tage schließen. Raureif überzog seine Augenbrauen und Wimpern. Doch obwohl es sich zweifellos um eine Leiche handelte, trug das Gesicht des Jungen nicht die harte Maske des Todes. Die Lippen und Wangen schimmerten in bläulichem, sanftem Weiß. Es war ein Licht überirdischer Unschuld, das diesen toten Körper umhauchte.

Der Junge lag so im Schnee, eine Hand neben der Hüfte, die andere neben dem Gesicht, die Beine leicht angewinkelt wie in einem verzauberten Schlummer. Niemand kam vorbei und fand ihn. Während der Schnee aus dem Himmel auf ihn niederschwebte und dabei doch seinen engelhaften Glanz nicht verringern konnte, blieb er den Menschen vollkommen verborgen wie so viele Wunder der Welt.

Er fiel durch einen weißen Tunnel, der weder Anfang noch Ende hatte. Blendendes Licht umstrahlte ihn, kam von überall und nirgendwo. Dann wurde ihm klar, dass das Licht gar kein Licht war; alles um ihn war schlichter weißer Raum. Er befand sich in keinem Tunnel. Er befand sich in sich selbst.

Er erwachte mitten im Schnee, öffnete die Augen, verzog das vor Kälte starre Gesicht und spürte zum ersten Mal, was er danach nie wieder loswerden würde: die Leere. Der Gedanke traf Vampa wie ein Blitz, ein jähes Aufleuchten in seinem Verstand, der weiß und flimmernd war wie der Schnee rings um ihn - er wusste nicht, wer er war. Er wusste gar nichts.

Mehrere Augenblicke, vielleicht waren es auch Minuten, tastete Vampa blind in seinem Gedächtnis. Aber da war nichts. Dann kam ihm der zweite Gedanke: Er fühlte nichts.

Keine Panik, keine Angst, keine Verzweiflung. Nur ein dumpfes Grauen vor sich selbst. Wer war er? Was war er? In welchem Körper war die Stimme gefangen, die sich diese Fragen stellte? Denn mehr als dieses Stimmchen im weiten weißen Nichts seines Verstandes war er nicht.

Erst im Verlauf der nächsten Wochen kamen ihm bruchstückhafte Erinnerungsfetzen, wie Papierschnipsel flatterten sie ihm zu. Und das rote Buch sah er das erste Mal in einem Traum.

Es war alles finster, als befände er sich in einem Ozean aus Tinte. Dann schwebte etwas aus der wolkigen Dunkelheit - etwas Rotes. Ein Buch. Jemand tauchte seine Feder in ein Fläschchen voll dunkler, dicker Flüssigkeit. Es war Blut, gemischt mit Tinte. Die Feder setzte auf die aufgestrichene Buchseite. Vampa hörte das Kratzen der Feder auf dem Papier. Das Dritte Buch. Mehr von dem, was aufgeschrieben wurde, sah er nicht. Wieder verschwand das Buch in Schwärze und Vampa träumte in Dunkelheit weiter. Aber das Geräusch der kratzenden Feder war noch da, Vampa spürte, wie es alles aus ihm herauslockte, und seine Erinnerungen wurden aufgesaugt, eingefangen. Nichts blieb, nur das Kratzen.

Vampa erwachte mit Tränen und dem Geschmack eines fernen Gefühls. Plötzlich wurde ihm klar, dass er, seine Vergangenheit, seine Seele in dem roten Buch mit der roten Bluttinte steckten. Im Dritten Buch. Alles würde er tun, nur um dieses Buch zu finden.

Die Suche nach dem Blutbuch wurde zum Sinn seiner Existenz. Vielleicht richtete er aber auch bloß all seine Kräfte auf die Suche, um sich abzulenken - davon abzulenken, dass er in sich selbst gefangen war und die Sinnlosigkeit seines Daseins niemals ein Ende finden würde, nicht einmal im Tod. Aber das merkte er erst später. Viel später, nach fast einem Jahr, fiel ihm auf, dass er nicht sterben konnte.

Manchmal glaubte er auch, verrückt zu sein. Was, wenn er sich nur einbildete, sein Haar wachse jede Nacht nach, seine Schrammen verheilten wieder, sein kindliches Gesicht werde nie älter? War er ein Wirrkopf, der zwischen Traum und Wirklichkeit nicht unterscheiden konnte? Aber wenn dem so war, hätte er doch nicht darüber nachdenken können, oder?

Außerdem war Vampa ganz anders als alle Menschen, die er beobachtete, ob verrückt oder gesund. Wie leicht freuten sie sich über wertlose Dinge! Die verliebten Mädchen, die auf der Straße kicherten, und die Jungen auf den Schulhöfen, die sich über eine gewonnene Prügelei freuten, sie alle kamen Vampa so simpel vor. Fühlten sie dies, waren sie glücklich, fühlten sie das, waren sie betrübt, so wie ein Kind, das beim Schokoladeessen lacht und beim Grünkohl weint, nicht aber entscheiden kann, was ihm vorgesetzt wird.

Vampa beobachtete das Leben der Menschen und verachtete sie. Er verachtete ihr kümmerliches Glück, ihren zerbrechlichen Stolz, ihre aufgeblähte Liebe. Wie waren sie alle schmutzig und jämmerlich und wie bedeutungslos war all ihr Tun und Fühlen! Vampa sah die Männer in Eck Jargo kommen und gehen, feiern und flüchten, leben und sterben. Wie Barbaren ermordeten und erschlugen sie sich oder wurden von der Polizei geschnappt. Früher oder später waren sie alle verloren.

Nur Vampa nicht. Er kam und ging und kam wieder, und während alle rings um ihn dem Tod entgegenrannten, tanzend, torkelnd oder schleichend - während alles voranströmte wie ein Fluss auf sicherem Weg zur Klippe, war Vampa stehen geblieben. Er war ein Stein im Flussbett, zu tot, um sich zu bewegen, und dabei würde er nie über die Klippen des Todes schreiten. Man konnte nicht sterben, ohne am Leben zu sein - die Ironie war so grausam! Und obwohl Vampa in jeder Minute Ekel vor dem bedeutungslosen Vorantaumeln der Menschen empfand, sehnte er sich nur danach, wie sie zu sein.

Könnte er doch so einfach lieben, wie sie es taten! Könnte er doch so leicht fürchten wie die Kinder den Schatten, die Erwachsenen die Geldnot! Könnte er doch traurig sein, seine Traurigkeit mit Opium betäuben, aus den schläfrigen Träumen des Giftes erwachen und als friedliches, ruhiges Wrack dem Tod entgegengleiten!