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Aber Vampa war nicht wie sie. Alle Menschlichkeit war aus ihm herausgerissen worden und allein die Hülle seines Körpers zurück ins Leben geworfen - und nicht einmal die war mehr wirklich und menschlich genug, um zu welken. Vampa, der wirkliche Vampa, schlief nicht unter den Kanalrohren am Fluss. Er boxte nicht in Eck Jargo und schlich nicht mit durchschnittener Kehle durch die Stadt. Er war in einem Buch gefangen und alles andere von ihm war nichts als der Schatten einer Buchfigur.

Was Vampa in den vergangenen neun Jahren erlebt hatte, war nicht wenig gewesen, doch nichts davon war von Bedeutung oder konnte sein Herz berühren.

Nur an einen Tag dachte er oft zurück. Vor drei Jahren hatte er beschlossen, die beiden Blutbücher, die er gefunden hatte, zu verbrennen. Der Trost, den sie ihm beim Lesen spendeten, schien ihn zu verhöhnen; sie gaukelten ihm eine Identität und Gefühle vor, die zerfielen, sobald er seine Augen von der Schrift löste. Kurzerhand warf er die Bücher ans Flussufer und zündete sie an. Der kühle Novemberwind wirbelte die Ascheflocken in alle Richtungen, und während Vampa dort stand und den Rauch einatmete, fragte er sich, ob er die Menschen in den Blutbüchern umgebracht hatte.

Als nicht mehr als verkohlte Papier- und Lederfetzen übrig geblieben waren, vergrub er die Hände in den Taschen und strich ziellos durch die Stadt, vorbei an den Kutschen und Passanten. Dann kam er zu einer kleinen Kirche. Eine Weile betrachtete er die bunten Glasfenster und die hohe Holztür mit den Eisenbeschlägen. Aus irgendeinem Grund kam die Kirche ihm bekannt vor. Als hätte er schon einmal von ihr gelesen. Schließlich trat er ein.

Es war dunkel und kalt. Mattes Licht fiel durch die Fenster und malte bunte Mosaike auf die Gebetsbänke. Am Altar brannten Kerzen. Eine Jesusfigur aus Wachs hing an einem Kreuz. Seine Augen waren unendlich traurig auf Vampa gerichtet. Vampa hatte plötzlich das erschreckend starke Gefühl, dass dieser Jesus genau dasselbe Schicksal hatte wie er. Vampa setzte sich in die erste Reihe und erwiderte den Blick der Wachsfigur. Sein Atem gefror in der kalten Luft zu Nebelwölkchen.

Der Jesus am Kreuz beobachtete ihn wissend. Verständnisvoll. Erging es ihm nicht wie Vampa? Hing nicht auch er an dem Kreuz, um zu sterben, und konnte es doch nicht? Er würde in alle Ewigkeit an Kreuzen hängen, solange die Menschen seiner gedachten. Er würde in ihren Erinnerungen nie ganz tot sein.

Vampa zog die Nase hoch. Wüsste er doch mehr über Religion! Vielleicht lag dort die Antwort auf seine Fragen? Er sprang beinahe auf die Füße, gepackt von einer Idee, und lief die Stufen zum Altar hinauf. Eine Bibel lag aufgeschlagen neben der Wachsfigur.

Vampa begann zu lesen. Aber die Worte ergaben für ihn keinen Sinn; sie hatten nichts mit ihm zu tun. Vampa blätterte die Bibel durch. Vielleicht musste er genauer suchen. Er war so vertieft, dass er gar nicht hörte, wie jemand in die Kirche kam. Eine Frau trat vor den Altar. Erst als Vampa ein leises Wimmern hörte, blickte er auf.

Die Frau starrte ihn an. Ihr dunkles Haar war an den Schläfen ergraut und tiefe Kummerfalten zogen sich um ihre feuchten Augen.

»Wer bist du?«, hauchte sie.

Erkannte sie ihn etwa? Wusste sie von seinem Fluch? Die Frau zeichnete ein Kreuz in die Luft. »Großer Gott im Himmel! Du siehst aus ... du bist ... das ist unmöglich! So viele Jahre!«

Starr beobachtete Vampa, wie die Frau vor dem Altar auf die Knie sank.

»Ein Engel«, wimmerte sie. »Du bist ein Engel! Ich habe einen Engel gesehen ... Oh, Marinus. Mein Marinus!« Die Frau streckte die Hände nach ihm aus, dann griff sie sich mit einem Ächzen ans Herz und verlor das Bewusstsein.

»Was ist hier los?« Vampa fuhr herum, als ein Priester auf ihn zugeeilt kam. »Was machst du da, du Rotzbengel?«

Vampa wich erschrocken zurück und stieß gegen die Kerzen. Heißes Wachs tropfte ihm auf die Hand.

Dann entdeckte der Priester die Frau. »Grundgütiger! Was hast du getan?«

Vampa stolperte über seine eigenen Füße und rannte hinaus.

Mit den Fingern strich Vampa über die Buchseite. Er hatte Der Junge Gabriel fast fertig gelesen. Gierig, sehnsüchtig saugte er die Buchstaben in sich auf; die Worte nährten sein Inneres wie Papier ein Feuer, das gleich wieder erlischt.

Es war eine wunderschöne Geschichte. Über hundert glückliche Tage waren im Blutbuch festgehalten. Einmal lief der Junge Gabriel durch die sommerliche Stadt, es duftete nach frisch geschnittenen Blumen und ein Mädchen lächelte ihn an und steckte ihm eine kleine Lilie ins Knopfloch seines Jacketts. Ein anderes Mal beobachtete er den Sonnenuntergang. Die Wolken glühten unglaublich rot im Licht der schwindenden Sonne, und der ganze Himmel war von Farben erfüllt, die aufglommen und erloschen und immer neue Gesichter zeigten. Und einmal brach er nachts in die Küche des Waisenhauses ein und fand den Schrank, in dem die Nonnen ihre Kekse aufbewahrten. Er nahm alles mit und verschenkte die Kekse an die Kinder, mit denen er seine Schlafhalle teilte. Was am nächsten Tag geschah, erfuhr Vampa nicht. Im Buch waren nur glückliche Augenblicke gesammelt.

Er seufzte tief. Wie schön wäre es, der Junge Gabriel zu sein! Vampa schloss die Augen und drehte sich auf den Rücken. Das Rauschen der Kanäle schwand dahin, der feuchte Modergeruch verblasste; Vampa tauchte tief in die gelesene Geschichte ein, umhüllte sich damit wie mit einer warmen Decke aus Sonnenlicht und Blüten. In seiner Vorstellung war er der Junge Gabriel und lief durch die Straßen. Immer wieder sog er den Duft der Blumen ein. Immer wieder ließ er sich von dem lächelnden Mädchen die Lilie anstecken. Er versuchte, sich ihr Gesicht genau einzuprägen, aber es war von Licht umstrahlt, so als stünde die Sonne direkt hinter ihr, und er bekam nie mehr von ihr zu sehen als das kurze, alles erhellende Lächeln. Wenn es doch nur seine Erinnerung wäre! Sein Mädchen ... Seine Lilie.

Der Einbrecher

In den folgenden Tagen war Nevera Spiegelgold damit beschäftigt, ihre Geschenke auszupacken, Karten zu lesen und Dankschreiben zu verschicken. Hin und wieder kam ihr Elias Spiegelgold zu Hilfe und setzte unter ihre Briefe eine Unterschrift. Da Nevera abgelenkt war, genoss die gesamte Dienerschaft eine friedliche Zeit. Nur die Köchin musste mit ihrem Lohn für die verschwundenen Hummer aufkommen und schluchzte und zeterte abwechselnd vor sich hin.

Apolonia hatte sich seit dem Hochzeitstag zurückgezogen; sie verließ kaum ihr Zimmer, und wenn Trude hereinkam, um ihr das Mittagessen zu bringen, fand sie sie umgeben von hohen Bücherstapeln am Schreibtisch sitzen. Zwar war das kein seltenes Bild, doch als Apolonia eines Tages auf ihrer Fensterbank brütete und abwesend in den Park hinausstarrte, kamen Trude Bedenken.

»Haben Sie Sorgen?«, fragte Trude mit ihrer lieben Piepsstimme und faltete die Hände vor der Brust.

»Nein«, erwiderte Apolonia matt. »Sei so gut, bring mir einen schwarzen Tee mit Honig, drei Esslöffel Milch. Und stell mir die Lampe hierher. Ich will später lesen.«

Trude lächelte erleichtert. Das war wieder die Apolonia, die sie kannte. Sie eilte los, und als sie wiederkam und das Silbertablett neben die Fensterbank stellte, entdeckte Apolonia neben ihrem Tee drei Nussplätzchen.

Fast pausenlos musste Apolonia an den Lieferjungen denken. Mehr, als dass er für jemanden namens Mone Flamm arbeitete, wusste sie nicht. Aber wer war überhaupt Mone Flamm? Höchstwahrscheinlich hatte er ihrem Onkel etwas gebracht, das er für einen Gerichtsprozess brauchte - das Paket hätte Apolonia nur mittelmäßig interessiert, wäre da nicht das Fenster gewesen.