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Das Fenster. Es war verschlossen gewesen, bevor der Junge hinausgesprungen war, darauf hätte Apolonia ihre rechte Hirnhälfte verwettet. Wie war es also aufgegangen? Es gab nur eine Erklärung, aber die war unwahrscheinlich, fast unmöglich ... Wenn es wirklich so war, verstand Apolonia nicht, was ihr Onkel damit zu tun hatte. War es Zufall? Oder wusste Elias Spiegelgold, mit welchen Leuten er heimliche Geschäfte machte?

Apolonia grübelte und grübelte, verdächtigte Elias sogar und verwarf all ihre Ideen wieder. Was sie in ihren Büchern nachlesen konnte, lieferte keine konkreten Antworten, sondern wies nur auf noch mehr Möglichkeiten hin. Als sie nach zwei Tagen keine Ruhe fand, beschloss sie, die Sache vorerst ruhen zu lassen und sich abzulenken.

Eintrag Nummer 15. Der 12. November.

Mutter hatte mir endlich von ihren Gaben erzählt. »Ich bin jemand, den die einfachen Leute eine Motte nennen würden«, hatte sie gesagt. »Und zwar, weil ich wandern kann.«

Natürlich wusste ich sofort, was sie damit meinte. Magdalena konnte ihren Körper verlassen und als Geist wandeln. Das war eine der Fähigkeiten, die man als Motte besitzen konnte.

»Wieso glauben die Leute nicht, dass es solche Phänomene gibt?«, fragte ich sie, mit der charmanten Naivität einer Siebenjährigen. Ich erinnere mich, wie ihr Gesicht strahlte, obwohl sie nur ein wenig lächelte. Sie hatte ein Gesicht, das wie aus Mondlicht geformt schien. Es veränderte sich ständig und war dabei doch immer gleich wie ein gemaltes Bild; in ihren Augen tanzte das Wasser eines hellen Flusses.

»Wir Motten haben unsere Gaben immer geheim gehalten. Denn die Menschen waren lange eifersüchtig und misstrauten jenen, die anders waren als sie, vor allem wenn sie etwas besaßen, das sie nicht hatten. Früher wurden Motten und solche, die man für Motten hielt, sogar gefoltert und verbrannt.«

»Du meinst die Inquisition, Mutter?«

Meine Mutter nickte. »Zum Beispiel.«

»Bist du dann in Gefahr?«

»Nein. Vieles hat sich seitdem geändert. Ich glaube, heute sind die Menschen eher bereit, Anderssein zu akzeptieren. Eine neue Zeit der Wissenschaft, der Entdeckung und Aufklärung steht uns bevor. Wir sollten uns nicht vor der Wahrheit fürchten. Wir sollten uns darüber freuen und versuchen, sie zu verstehen.«

Ich nickte. Hätte ich damals gewusst, in welcher Gefahr meine Mutter schwebte, und dass der Verrat von ihresgleichen kommen würde, hätte ich sie davon abgehalten, ihr Können preiszugeben.

Eintrag Nummer 16. Der 14. November.

Bevor Mutter ermordet wurde, hörte ich sie mit der Verräterin streiten. Es war eine Nacht im Februar. Die Regentropfen prasselten so laut gegen die Fenster, dass ich nicht schlafen konnte. Aber noch etwas anderes hielt mich in jener Nacht wach. Ich wage zu sagen, dass es ein Gefühl war. Eine merkwürdige Befürchtung, höchstwahrscheinlich heraufbeschworen durch frühere Überlegungen und Erlebnisse. Das menschliche Hirn kann die erstaunlichsten Zusammenhänge im Unterbewusstsein herstellen.

Ich hörte den Streit durch die Schlafzimmertür meiner Mutter. Vielleicht sollte ich es nicht Streit nennen - denn weder meine Mutter noch die Unbekannte sprach lauter als flüsternd. Die exakte Wortwahl der beiden habe ich nur noch lückenhaft in Erinnerung, nichtsdestotrotz werde ich versuchen, ihr Gespräch so wahrheitsgetreu wie möglich wiederzugeben.

»Die Welt ist für uns bereit!«, flüsterte meine Mutter. Eine Dringlichkeit und Unruhe lagen in ihrer Stimme, die ich zuvor nie bei ihr erlebt hatte und danach nie mehr erleben sollte. »Die Menschen haben sich geändert. Sie sind tolerant! Unsere Gaben werden ihnen allen helfen, wieso sollten sie sie ablehnen? Es ist selbstsüchtig, unsere Kräfte und unser Wissen für uns zu behalten!«

»Schweig!«, zischte die andere Stimme. Das Blut rauschte in meinen Ohren, so erschrocken war ich über die Strenge und Kälte der Fremden. »Menschen ändern sich nicht! Hast du vergessen, was die Eltern derer getan haben, die du so tolerant nennst? Glaubst du, die ganze Menschheit erneuert ihre Natur innerhalb von ein paar Jahrzehnten? Sei nicht so dumm!«

»Du kannst doch nicht alle Menschen bevormunden. Sie haben das Recht auf unsere Ehrlichkeit!«

»Das Recht? Das Recht?! Niemand hat auf dieser Welt irgendein Recht außer dem Recht auf seine Selbstsucht. Ich sage dir, was sie mit deiner Ehrlichkeit machen werden, schöne, einfältige Magdalena! Sie werden dich verspotten! In ihre Irrenhäuser werden sie dich schicken, und wenn du deine herrliche Ehrlichkeit beweist, dann wird man dich ausstellen und studieren wie ein wildes Tier! Was für eine Entdeckung wirst du sein! Eine Besessene! Eine Hexe! Du wirst von Zirkus zu Zirkus gereicht und landest auf dem Untersuchungstisch von Ärzten, die dir Elektrizität durch den Körper jagen. Das ist das Recht, das die Menschen sich nehmen werden.«

»Ich habe Vertrauen in das Gute. An diesem Vertrauen kannst du nicht rütteln.«

»Nun verstehe ich. Du verlogenes Ding! Es geht dir nicht um die Wahrheit und Ehrlichkeit, so dumm bist nicht einmal du. Ich hätte es wissen müssen - du sehnst dich nur nach noch mehr Bewunderung und Ruhm und - und Macht! Dein blasses Elfenlächeln, das ist dir nicht genug, nicht wahr? Du willst, dass alle dir zu Füßen liegen! Aber das werde ich verhindern, Magdalena. Ich verhindere es.«

»Du bist von Hass und Neid zerfressen. Aber anstecken kannst du mich mit deinem Übel nicht! Ich habe meine Entscheidung getroffen.«

»Und ich die meine, darauf kannst du dich verlassen ...«

Ich versteckte mich hinter den Fenstergardinen, als die Unbekannte das Schlafzimmer meiner Mutter verließ. Sie trug einen langen, dunklen Mantel, und ich sah weder ihr Gesicht noch ihre Haare oder ein anderes Merkmal, an dem ich sie hätte wiedererkennen können.

Als die Haustür ins Schloss fiel, schlich ich ins Zimmer meiner Mutter. Sie saß auf der Bettkante. Als sie mich bemerkte, lächelte sie müde und streckte sich auf dem Bett aus.

»Wer war das?«, fragte ich.

Magdalena schloss die Augen. »Unwichtig.« Sie klang erschöpft. Ich legte mich neben sie. Bald ging ihr Atem tief und sehr langsam. Ich versuchte, ihn zu imitieren, aber sie atmete wirklich viel zu langsam.

»Wanderst du wieder?«, flüsterte ich.

Meine Mutter nickte schwach. »Nur einen Augenblick ... ich muss es nur kurz ... ich muss nur sehen, wo sich meine Feinde treffen ...«

Ich lag still und reglos neben ihr, bis ich einschlief.

Am Morgen war der Regen versiegt. Grau und leer füllte der Himmel alle Fenster aus. Meine Mutter lag noch genauso neben mir wie in der Nacht. Ihre Hände waren kalt, und über ihrem Gesicht hing ein merkwürdiger Schein, wie ein Tuch aus Nebel, das ihre Züge bleicher wirken ließ. Nur ihr Atem ging noch so tief, so langsam, so versunken.

Ich versuchte, sie zu wecken. Sie wachte nicht auf.

Mein Vater kam, als ich ihn rief. Er ergriff sie an den Armen, aber als er sie hob, war ihr Körper steif. Sie wachte nicht auf. Sie würde nie wieder erwachen. Vater und ich wussten es.

Zwei Wochen lang schlief meine Mutter einen Schlaf, der tiefer ist und unergründlicher als jeder Traum. Ihr Körper lebte noch, aber ihr Geist fand keinen Weg mehr in ihn zurück. Jemand hielt sie gefangen und Vater und ich waren hilflos. Wir konnten nichts tun, wir konnten nur neben ihrem leeren Körper sitzen und warten, dass er seinen letzten Atemzug tat. Kein Arzt konnte ihr helfen. Wir hatten es auch nicht erwartet.

Nach zwei Wochen war der letzte Lebensfunke in Magdalenas Körper erloschen.

Vater veränderte sich sehr. Wir sprachen nie über Mutters Tod, aber wir wussten beide, wieso sie gestorben war. Für was. Wer schuld daran war.

Vater zerstörte alles, was ihr gehört hatte: die Silberpfeifen, die schwebenden Teppiche, die Runenkarten, die magischen Steine, die Amulette. Er verschloss die Salons, in denen meine Mutter einst wandelte, entließ all ihre Dienstmädchen, und er zog sich zurück; zurück von der Welt, zurück von mir.