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Tigwid, der bis jetzt wortlos neben ihr hergegangen war, musterte sie aus den Augenwinkeln. »Weißt du, ich bin richtig froh, dass du so ein Sauertopf bist.«

»Was?« Sie erwachte aus ihren Gedanken.

Tigwid winkte ab. »Nichts. Weißt du, warum ich so glücklich bin, dass du dir die Schuhe nicht binden kannst?«

»Weil du offenbar über jede beknackte Sache auf dieser Welt glücklich bist.«

»Nein«, sagte er ernst. »Ehrlich gesagt bin ich nicht oft glücklich. Ich bin bloß froh, dass du dir die Schnürsenkel nicht binden kannst. Die Prophezeiung besagt nämlich, dass das Mädchen, das ich suche, so ein unglaubliches Trampeltier ist wie du.«

Apolonia hielt inne und schaute zur nächsten Straßenlaterne hoch. Tigwid folgte ihrem Blick. Eine graue Stadttaube war auf der Laterne gelandet und plusterte ihr Gefieder. Mehrere Momente lang schwieg Apolonia, dann flog die Taube davon und verschwand hinter den Dächern. Apolonia setzte sich wieder in Bewegung.

»Was hast du zu ihr gesagt?«, fragte Tigwid aufgeregt.

»Wie kommst du darauf, dass ich etwas zu ihr gesagt habe?«

Er sah sie mit einem schiefen Lächeln an. »Ich habe euch verstanden.«

Apolonia schnaubte. »Du hast wirklich gar keine Ahnung. Allein dass du Hunger deinen Klangnamen genannt hast, spricht schon Bände.«

Tigwid blickte eine Weile in den tanzenden Schnee. In der Ferne rollte eine Kutsche vorbei. »Ist das der Grund, warum du auf Tauben und Kutschenrattern gekommen bist?«

»Nicht ich, Hunger hat es so verstanden.«

Tigwid dachte nach. Dann schmunzelte er. »Tigwid ... Meine Mutter müsste einen Hang zu exotischen Namen gehabt haben, meinst du nicht?«

»Weißt du das selbst nicht am besten?« Apolonia sah über die Schulter zurück. Im Schneefall erkannte sie nur undeutlich einen grauen Fleck, der ihnen in stetem Abstand folgte. Sie atmete tief durch.

»Ich kenne meine Mutter nicht. Ich bin aus dem Waisenhaus.«

»Aha.« Sie drehte sich wieder nach vorne und rieb sich die kalten Hände. Schweigend gingen sie nebeneinanderher. Ihre Schritte klangen gedämpft. Bald erreichten sie eine Kreuzung. Tigwid bog nach links.

»Fragen sich deine Erzieher nicht, wo du bist, wenn du in den Nächten so rumstrolchst?«

»Ich bin vor zwei Jahren abgehauen.«

Apolonia zog überrascht die Augenbrauen hoch. »Wer passt auf dich auf?«

»Ich selbst. Nicht jeder hat eine ganze Dienerschaft, die ihm die Schuhe bindet.«

Apolonia warf ihm einen geringschätzigen Blick zu. »Du weißt gar nichts. Ich trage nicht nur die Verantwortung für mich, sondern auch für ...«

»Wen? Deine Tierfreunde?«

»Das verstehst du nicht. Du hattest nie Eltern.«

»Oh, entschuldige bitte! Es muss wirklich verdammt hart sein, reiche Eltern zu haben.«

»Sie sind tot und verrückt.«

Tigwid blieb stehen.

»Was ist?«, fragte Apolonia scharf.

»Das wusste ich nicht. Ich wusste nicht, dass ein Elternteil von dir tot ...«

»Das verrückt hast du vergessen.«

Sie setzten sich wieder in Bewegung.

»Meinst du so richtig verrückt?«

»Ist nackt durchs Haus tanzen und deiner schlafenden Tochter Watte in die Haare knoten verrückt genug?«

Tigwid lächelte mitfühlend. »Ich kenne auch ein paar Verrückte. Einer zum Beispiel, Krese heißt er, dreht durch, wenn man sagt: Ist es wieder so weit? Muss irgendwas mit seiner Kindheit zu tun haben. Er hat mal jemandem beide Arme gebrochen, der es gesagt hat. Und dieser Schrank Gibb Molk, der für Menson arbeitet - das ist ein Hehler -, dieser Molk soll angeblich jeden erschießen, der dreimal im Poker gegen ihn gewinnt. Allerdings habe ich das nur gehört, ich vermeide nämlich den Kontakt zu solchen Leuten. Auch wenn ich in ihren Kreisen verkehre, bin ich ganz anders als sie, musst du wissen. Ich bin weder verrückt noch gewalttätig und ich präpariere auch keine toten Ratten.«

Sie kamen über belebte Hauptstraßen. Kutschen ratterten vorbei. Im Schnee dampften Pferdeäpfel und Apolonia stieg mit gerümpfter Nase darüber hinweg. Ein kleiner Weihnachtsmarkt wurde gerade aufgebaut. Es roch nach Punsch und Lebkuchen, nach gebrannten Mandeln und Würstchen. Kisten wurden abgeladen und große Säcke voll Kartoffeln vor die Stände der Bauern gebracht. Rufe hallten in der Luft, vermengten sich mit dem Rumpeln und Glockenrasseln der Kutschen, dem Hufgeklapper, dem Gesang eines Straßenmusikanten:

O wäre ich ein reicher Mann, reicher Mann,

hätt ich feine Kleider an, Kleider an,

dann würd ich meiner Liebsten reichen,

Sie würd nie mehr aus meinem Arme weichen ...

»... Brot! Frisches, ofenwarmes Brot ...«

»... Porzellanpuppen von feinster Qualität, Holzschwerter für die kleinen Söhne! Der Preis ist gering ...«

»... Pistazien! Gebrannte Mandeln! Junger Herr, willst du deiner schönen Begleiterin nicht eine Tüte heiße Maronen schenken ...?«

»... Jorel! JOREL!«

Tigwid packte Apolonia, die noch immer nach den Maronen sah, fest am Arm. »Lauf!«

»Was?«, erwiderte sie verdutzt. Er zerrte sie voran. »Au, nimm deine Griffel da weg!«

Sein Blick irrte durch die Menschenmenge. Apolonia sah zurück und erkannte in der Ferne eine Gruppe von Männern, die sich mit finsteren Gesichtern durch das Gedränge schoben.

»Jorel! Na warte, mieser Feigling!«

»Wer ist ... meinen die dich?«, fragte Apolonia.

»Ähm, kannst du dich erinnern, was ich dir über diese Verrückten erzählt habe, diesen Gibb Molk, der Leute erschießt, wenn sie gewinnen?«, stammelte er. »Also, wenn ich vorstellen darf - das sind sie.«

»Komm her!«, brüllte einer der Männer. Er stieß eine alte Frau auf Krücken zur Seite und begann zu rennen.

»Schnell!« Tigwid zog Apolonia am Ärmel. Ehe sie sichs versah, flohen sie quer durch den belebten Markt. Schreie schwollen hinter ihnen an.

»Haltet ihn! Haltet den Jungen, er ist ein Betrüger!«

Apolonia stieß einen Schrei aus, als sie fast in einen Metzgerstand rannten. Der Metzger hatte sich gerade umgedreht, um ein halbes Schwein zu zerlegen. Tigwid breitete die Arme aus und lud sich alle Würstchen auf, die auf dem Verkaufstisch lagen.

»Was zum -« Apolonia fuhr herum und sah, dass die Männergruppe nur noch fünfzehn Meter entfernt war. War das zu fassen? Der faustschwingende Tod saß ihnen im Nacken und der irrsinnige Kerl dachte ans Essen! Der Metzger drehte sich um. Tigwid flitzte los, Apolonia hinterher.

»He! Diebe! Diebe ...« Die Rufe des Metzgers verebbten nicht etwa, wie Apolonia erwartet hatte. Als sie im Rennen zurücksah, erkannte sie, dass er ihnen hinter Gibb Molk mit blitzenden Fleischerbeilen folgte. Großartig! Jetzt hatten sie gleich zwei verschiedene Verfolger auf den Fersen.

Tigwid huschte um einen Stand und blieb an der hölzernen Hinterseite stehen. Eine Wurstkette baumelte bis zum Boden.

»Was ... zum Teufel ... ist mit dir los?«, fauchte Apolonia. »Auch wenn du gerade im Wachstum steckst und offenbar nicht über die finanziellen Mittel verfügst, um dich anständig zu ernähren, ist das kaum der richtige Zeitpunkt für Wiener Würstchen

»Aus dem Weg.«

Apolonia wich erschrocken zurück, als die Männer um die Ecke bogen. Tigwid warf ihrem Anführer die Würstchen direkt ins Gesicht. Gibb Molk verfing sich nur kurz in den Ketten, aber doch lange genug ...

»Was soll das sein, ein dummer Scherz?«, brüllte er. Tigwid riss Apolonia fort. Gerade als die Männer ihnen nachsetzen wollten, erschien der Metzger.