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»Diebe!«, donnerte er. Eine dichte Menschenmenge sammelte sich, vom Ruf alarmiert, um die Männer und den Metzger. »Meine guten Würste! Dafür werdet ihr bezahlen ...«

Tigwid und Apolonia hatten das Ende des Weihnachtsmarktes erreicht, als die ersten Wachmänner beim Metzger und seinen Wurstdieben ankamen. Keuchend flüchteten sie über die Straße und lehnten sich in einer dunklen Seitengasse gegen eine Hauswand. Mehrere Augenblicke rangen sie nach Atem. Dann stützte Tigwid die Hand in seine Seite und wies mit einem ungnädigen Wink zum Markt zurück. »Das ... ist mein täglicher Morgensport.«

»Bist du übergeschnappt?« Apolonia stampfte mit dem Fuß auf, obwohl sie sich noch ganz schwach auf den Beinen fühlte. »Ich dachte, ich werde gleich aufgeschlitzt! Was hast du den Kerlen getan?«

»Nichts, gar nichts!«, verteidigte sich Tigwid. »Manchmal gerät man einfach an Leute, die überreagieren, wenn man sich mal was ausborgt oder beim Poker zu ein paar Hilfsmitteln greift.«

Apolonia verdrehte die Augen. »Und du willst auf dich selbst aufpassen können!«

Tigwid strich sich manierlich die Haare zurück. »Ich bevorzuge eben einen ereignisreichen Lebensstil. Also, wollen wir weiter?«

»Wo sind wir hier überhaupt?«, fragte sie, als Tigwid die dunkle Gasse hinaufdeutete. Aus einem Fenster schüttete jemand Abfälle auf die Straße. Ein fauliger Fischkopf rollte direkt vor Apolonia.

»Keine Angst, ich beschütze dich«, erklärte Tigwid.

»Ach, hast du noch ein paar Würstchen parat?«

Er grinste. Beschwingten Schrittes lief er durch die finsteren Gassen, Apolonia stapfte hinterher. Die Schnürsenkel schlenkerten ihr bei jedem Schritt um die Füße und waren schon ganz nass.

»Wieso haben die dich Jorel genannt?«

»So heiße ich. Unter anderem.« Tigwid schielte zu ihr herüber. »In Wirklichkeit magst du mich.«

Apolonia starrte ihn an. »Du meinst wohl, wie ich in Wirklichkeit auch Mumps und Molke mag.«

Er grinste.

Vogelschau für Bassar

Im Polizeipräsidium begann der Tag wie jeder andere: nämlich hektisch. Der erste Schneefall tat sein Übriges, und schon früh am Morgen tummelten sich in den langen Gängen und auf den breiten Treppen die ersten Streithähne, die in einen Straßenunfall verwickelt waren. In den unteren Stockwerken hatten sich bereits lange Schlangen vor den Büros gebildet; zerlumpte Trunkenbolde, die kaum aufrecht stehen konnten, fein gekleidete Herren mit blutenden Nasen und grell geschminkte Damen drängten sich in kleinen Wartezimmern und engen Korridoren zusammen, und wann immer ein Beamter vorbeikam, donnerte es: »Rauchen ist im Gebäude nicht gestattet!«

Weiter oben, im fünften Stock, war es wesentlich ruhiger. Der Lärm hing verzerrt in der kühlen Luft, dafür hallten die Schritte umso lauter in den Gängen wider, denn die Decken waren hoch. Hier hatte der Inspektor sein Büro.

Bassar steckte sich eine Zigarette in den Mund und blies den Rauch gegen die Glasscheibe. Es war ein großes Fenster, durch das zu jeder Tageszeit Licht fiel. Das Büro des Inspektors war geräumig, aber kahl. Die Mitte des Raumes wurde von einem wuchtigen Schreibtisch eingenommen, dahinter zog sich ein langes Regal hoch. An der gegenüberliegenden Wand standen zwei Stühle - mehr Möbel gab es nicht. Dafür lagerten überall Akten, Briefe, Berichte, Ordner und Gerichtsbücher. Unter anderem ließ sich auch hier und dort ein Beweisstück finden: Über einer Stuhllehne hing ein uraltes Toupet, das sich im Gerichtsprozess als unwichtig erwiesen hatte. Seitdem staubte es unbeachtet vor sich hin.

Bassar nahm einen zweiten Zug. Eigentlich mochte er Zigaretten nicht, sie kamen ihm unfein vor, auch wenn er das so nie zugegeben hätte. Aber im langen Umgang mit Halunken und Verbrechern, während endloser Beschattungen in kalten Nächten und Aufenthalten in schummrigen Tavernen hatte Bassar ganz instinktiv mit der Qualmerei angefangen.

Draußen versank die Stadt in einem flimmernden Schneegestöber. Kirchtürme, Hausdächer, alles war längst weiß; auch das protzige Parlamentsgebäude weiter entfernt, das ihn mit den breiten Marmorsäulen wie ein Maul angrinste, trug bereits einen dicken Schneepelz.

Bassar sah auch sein eigenes Spiegelbild in der Fensterscheibe. Er sah älter aus, als ihm lieb war. Sein Mund war schmaler geworden, die Tränensäcke schwerer, und seine Nase kam ihm knubbeliger vor. Er blies den Rauch gegen das Glas und sein Gesicht verschwand. Schon besser.

Ein zaghaftes Klopfen kam von der Tür. Bassar drehte sich um, die Zigarette im Mundwinkel. »Ja, herein.«

Eine pummelige alte Frau trat ein. Sie hielt das runde Krötengesicht ängstlich gesenkt und blickte Bassar aus großen Augen an. »Herr Inspektor? Cornelius Bassar?«

Er runzelte leicht die Stirn. Es kam nicht oft vor, dass jemand seinen Vornamen nannte. »Ja, der bin ich. Kommen Sie herein. Was gibt es?«

»Mein Name ist Trude Gremchen«, lispelte die Frau. Vorsichtig schloss sie die Tür, blieb aber auf der Schwelle stehen. »Man schickt mich wegen ...« Sie drehte sich halb um sich selbst, um in ihre Rocktasche greifen zu können, und zog einen Brief hervor. »Das ist für Sie, Herr Inspektor.«

Bassar kam auf sie zu und nahm den Brief entgegen. »Von wem?«

Die Frau faltete die Hände vor der Brust. »Ich glaube, das darf ich nicht sagen.«

Bassar warf ihr einen argwöhnischen Blick zu. Da der Umschlag weder zugeklebt noch versiegelt war, öffnete er ihn gleich und entnahm ihm ein gefaltetes Papier. Er überflog die Zeilen und erstarrte. Er las den Brief ein zweites Mal.

»Wer hat das geschrieben?«

Die Frau ließ ein unruhiges Quieken vernehmen, dann wuselte sie herum und öffnete die Tür. »Ich weiß nichts von dem Inhalt, Herr Inspektor, aber es ist sehr wichtig, das weiß ich - sehr dringend, gewiss! Wer mich schickt, wird nur wahre Worte sprechen, das versichere ich Ihnen und jedem anderen!«

Bevor Bassar noch etwas erwidern konnte, zog die Frau die Tür hinter sich zu und war verschwunden. Draußen im Flur hörte er das eilige Klappern ihrer Schritte. Dann verhallte es und verschwamm mit dem gedämpften Lärm der tieferen Stockwerke.

Wieder las Bassar den Brief durch. Ein anonymer Absender ... und am Ende ein Satz: Zweifeln Sie nicht an meinem Urteilsvermögen. Mit Hochachtung.

Er faltete das Papier wieder zusammen und trommelte eine Weile mit den Fingern darauf. Was sollte er tun? Die kleine Spiegelgold konnte das doch nicht ernst meinen!

Andererseits ... Wenn er nicht jede Möglichkeit nutzte, würde er sich das nie verzeihen. Er konnte es sich nicht leisten, Hinweise unbeachtet zu lassen - nicht in diesem Fall. Nach kurzer Überlegung lief er zu seinem Schreibtisch, griff nach dem Telefon und rief unten in der Zentrale an.

»Sondereinsatz. Ich brauche vierzig Mann. Den ganzen Vormittag. Vielleicht länger.«

»Wer kommt auf so eine Idee? Mal wirklich - wer kommt auf so einen Blödsinn? Das ist doch Irrsinn, eine Taube finden in diesem Schneefall! Ist das vielleicht irgendein riesengroßer Scherz? Nee, nicht mit mir!« Fiz Soligo zog geräuschvoll die Nase hoch und spuckte in den Schnee. Das war typisch für den Kommissar. Er hielt, schon seit sie das Polizeipräsidium verlassen hatten, nicht die Klappe. Nur musste Bassar ihm diesmal leider recht geben: Es war Irrsinn.

Er und Soligo und einige weitere Kommissare standen mitten auf dem Apollo-Platz und schauten in den weißen Himmel; an der nächsten Straßenecke parkten mehrere Dutzend Polizeiwagen.

Der Apollo-Platz war im Brief als Treffpunkt genannt worden. Offenbar, dachte Bassar mit einem leisen Schnauben, hatte die kleine Spiegelgold einen exzellenten Sinn für Humor. Sieben Meter hoch stand die Statue ihres göttlichen Namensverwandten vor ihnen und blickte aus steinernen Augen auf sie herab. Der Platz war gesäumt von Nachbildungen griechischer Tempel; an der Südseite stand das Museum für Völkerkunde, an der Nordseite das Museum für antike Kunst und an der Westseite thronte eine Pagode mit vergoldeten Turmspitzen. Nur zum Osten hin öffnete sich der Platz einer breiten Pflasterstraße.