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»Mart! Wie geht’s? Was machst du so?« Tigwid lief auf den Dreckmann zu und schüttelte ihm ausgiebig die Hand. Apolonia hätte lieber in eine rohe Leber gebissen.

»Och, man tut, was man kann. Guck mal, ich hab meine Knopfsammlung fast vervollständigt.« Er kramte in seinem Deckenlager und zog einen langen Lederlappen hervor, auf den Knöpfe genäht waren.

»Oah«, machte Tigwid und beugte sich vor. »Wo hast du denn das Exemplar da aufgegabelt?« Er wies auf einen zerkratzten Goldknopf. Der alte Mart nickte verlegen wie ein Schulmädchen. »Man hält die Augen eben offen, nich wahr?«

»Hm-hm.« Beiläufig fügte Tigwid hinzu: »Übrigens, das ist Poli, ’ne Freundin von mir.«

Marts Blick wanderte zu Apolonia. »’n feines Fräulein hast du da im Schlepptau, Jorel. Woher kennt ihr euch denn?«

»Man hält die Augen eben offen, nicht wahr?«

Ungeduldig trommelte Apolonia mit den Fingern auf ihre Arme. Sie hatten keine Zeit für Witzchen mit einem Bettler! Sie räusperte sich laut. »Entschuldigung - ich unterbreche euer Gespräch wirklich ungern. Aber wir müssen weiter.«

Mart runzelte die Stirn. »Is das so?«

Tigwid zuckte die Schultern. »Tja, ist wahr. Aber wir reden wann anders darüber - du wirst die Knöpfe lieben, die ich dann mitbringe, versprochen.«

»Freu mich schon drauf. Mach’s gut, Jorel!«

»Du auch, Mart!«

Sie gingen weiter. Erst als sie um die nächste Straßenecke gebogen waren, brach Apolonia ihr Schweigen. Ruhig fasste sie zusammen: »Wir sind hier auf dem Weg zu Eck Jargo, dem berüchtigtsten Räuberversteck aller Zeiten, um in einem Buch der Antworten zu lesen, und du hältst an, um gemütlich mit einem Penner zu plaudern!«

»Mart ist kein Penner! Nur ein bisschen. Aber zufällig ist er ziemlich wohlhabend und kauft mir mehr Knöpfe ab als jede Näherei. Kunden sind nun mal Kunden.«

»Egal«, seufzte Apolonia.

»Was ist los? Nervös?«

»Nicht im Geringsten.«

»Aber du hast Angst.«

»Wovor sollte ich Angst haben?«

»Gleich wirst du inmitten einer wilden Diebesmeute stehen, umgeben von den finstersten Gestalten der Stadt«, raunte er.

Apolonia erwiderte nichts. Offenbar überraschte Tigwid das mehr als jede Antwort. Er räusperte sich und wurde ernst. »Du brauchst keine Angst zu haben, ich habe doch gesagt, ich pass auf dich auf.«

»Da bin ich doch erleichtert.« Es klang nur halb so spöttisch, wie sie es sich vorgenommen hatte. Denn im Grunde war sie tatsächlich froh, dass er da war. Natürlich nur, weil sie sich hier sonst nicht ausgekannt hätte. Sie strich sich die vom Schnee feuchten Haare glatt und zog die Nase hoch. »Wohnst du eigentlich auch hier?«, fragte sie beiläufig.

»Ich wohne mal hier und mal da ...«

»Das heißt, du hast kein Zuhause.«

Er legte den Kopf in den Nacken und öffnete den Mund. Kleine Schneeflocken rieselten ihm auf die Zunge. »Die Welt ist mein Zuhause. Was braucht man mehr?«

Bald wichen die Straßen noch schmaleren, dunkleren Gassen. Der Himmel war nicht mehr als ein weißer Schlitz zwischen den Hausdächern. Dann blieb Tigwid stehen. Vor ihnen lag eine Sackgasse. »Und jetzt bleib ganz ruhig.«

»Warum?«

»Wir werden beobachtet.«

Mit großen Augen sah sich Apolonia um. Links und rechts ragten Häuser mit schimmelig grünen Wänden und dunklen Fenstern auf. Nichts bewegte sich dahinter, nur der Schnee rieselte friedlich. Kein einziger Fußstapfen war auf der Straße. Die Sackgasse lag einsam und verlassen da.

»Los, gehen wir«, murmelte Tigwid ihr zu. Nebeneinander schritten sie los. Ein einziges Geschäft befand sich in der Sackgasse. Als Apolonia die Aufschrift auf dem Fenster lesen wollte, kam aus der gegenüberliegenden Tür eine alte Frau geschlurft. Sie blickte nur kurz zu Apolonia und Tigwid hinüber - und stieß ein knappes, hicksendes Kichern aus. Apolonia erschrak beinahe. Die Alte hatte einen Besen dabei, mit dem sie den Schnee glatt zu streichen begann. Leise summte sie vor sich hin, dann blickte sie wieder auf, stützte eine Hand ins Kreuz und sagte lächelnd: »Seid ihr so gut und helft mir die Treppe hoch in meine Wohnung? Ich schaffe es allein nicht, Kinderchen.«

Apolonia starrte sie an. »Ist das noch eine verrückte Kundin von dir?«

Tigwid schien allerdings zu keiner witzigen Antwort aufgelegt und erwiderte: »Hier sollte man besser tun, was von einem verlangt wird.«

Er kam auf die Alte zu, hielt ihr die Haustür auf und trat nach ihr und Apolonia ein.

Dunkelheit umfing sie. Die Haustür fiel knarzend ins Schloss. Plötzlich erklang ein Klickgeräusch und jemand knipste eine Glühbirne an.

Direkt neben der Haustür hockten vier Jungen an einem Tisch. Sie hatten offensichtlich Karten gespielt. Bis jetzt. Jetzt hielten sie Gewehre in den Händen.

Die Alte hörte auf zu schlurfen, warf ihren Besen in eine Ecke und nahm die Rumflasche vom Tisch. Ihr dünner Hals wippte, als sie in großen Schlucken trank. Dann rülpste sie und knallte die Flasche wieder auf den Tisch.

»Schweinekälte! Peppo, gib mir deinen Schal! Wozu stopfst du dich wie eine Gans aus?«

Der angesprochene Wächter zog sich gehorsam den Schal vom Hals, ohne dass sich sein Gewehrlauf von Apolonias Stirn wandte. Die Alte riss den Schal mit einem rasselnden Husten an sich und spuckte auf den Boden.

»Adios«, knurrte sie, stieß den Besen mit dem Fuß in die Luft, wo sie ihn flink mit der Hand auffing, und humpelte wieder hinaus.

»Also.« Einer der Jungen strich Apolonia mit dem Gewehrlauf über die Wange. Sie war zu schockiert, um ihm einen wütenden Blick zuzuwerfen. »Heute is wohl Tag der feinen Gesellschaft, wie? Habt ihr euch auf’m Schulausflug verlaufen?«

Tigwid lächelte gelassen, was Apolonia angesichts der Situation schier unglaublich fand. »Ich bin Stammgast. Nur meine Begleiterin ist zum ersten Mal bei Fräulein Friechen zum Tee eingeladen.«

»Und dein Name is wie, Schätzchen?«

»Poli«, antwortete Tigwid für sie. »Meine Cousine.«

»Ja, ja, das sind sie immer«, murmelte der Junge und ließ sein Gewehr sinken. Jedoch nur, um stattdessen ein Messer aus dem Gürtel zu ziehen. Der Wächter erhob sich, kam um den Tisch herum und stellte sich dicht vor Apolonia. Sie blinzelte, als er ihr in die Augen starrte.

»Was willst du bei meiner Tante, Poli?«

»Deiner ... Tante?«

Der Blick des Jungen irrte kurz zu Tigwid und wieder zurück zu Apolonia. »Fräulein Friechen heißt sie.«

»Ähm.« Apolonia räusperte sich leise. Offenbar erwartete man von ihr, dass sie in irgendwelchen Passwörtern sprach. Eilig rief sie sich ins Gedächtnis, was Tigwid soeben gesagt hatte. »Äh, ich will ... Tee trinken.«

»Na«, sagte der Wächter. »Dann woll’n wir mal sehen, was du ihr mitbringst.«

Er tastete ihre Arme und Beine ab und klopfte ihr mit dem Messer gegen die Schuhe. Als er die ungeschnürten Schnürsenkel bemerkte, grinste er. »Grad eben geklaut, wie?«

Apolonia wollte schon zu einer heftigen Antwort ansetzen, als sie begriff, dass die Bemerkung durchaus anerkennend gemeint war. Ihr verdutztes Schweigen griff der Junge offenbar als »Ja« auf.

Er kam federnd wieder auf die Beine und wippte vor Apolonia und Tigwid auf und ab. »Einlass macht dann sechs Mäuse pro Kopf.«

Tigwid begann zu lachen. »Ich war schon Gast in der Roten Stube, da hast du noch Taschentücher gemopst! Eintrittsgeld gab’s noch nie, Schätzchen.«

Der Junge grunzte und machte eine nachlässige Bewegung mit seinem Messer. Die Klinge schwang grässlich nah an Apolonias Nasenspitze vorbei. »Los, haut ab. Viel Spaß.«

Tigwid legte dankend eine Hand aufs Herz und schob die Haustür wieder auf. Apolonia folgte ihm verdattert. Die Alte schlich am fernen Ende der Sackgasse durch den Schnee und fegte gerade die Spuren weg, die Tigwid und Apolonia hinterlassen hatten.