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Tigwid ging nicht zum Ausgang, sondern zu den Bühnenvorhängen.

»Meinst du wirklich, dass das klug ist?«, raunte Apolonia, als er hinter den roten Fransenvorhang schlüpfen wollte.

»In so was hab ich Erfahrung.« Damit war er verschwunden. Apolonia knirschte mit den Zähnen, folgte ihm aber eilig.

Sie traten in einen engen Gang, der links zur Bühne führte und rechts an mehrere Zimmertüren grenzte. Leise schlichen sie an den Türen vorbei.

»Hier irgendwo muss doch ein Notausgang sein«, murmelte er. Vor der letzten Tür blieb Tigwid stehen, legte die Hand auf die Türklinke und machte auf.

Ein Dutzend halb bekleideter Tänzerinnen fuhr herum. Hinter einem Sammelsurium von Kleidern, Federboas und Spiegeln war eine offen stehende Tür, hinter der eine Treppe nach unten führte.

Tigwid strahlte. »Volltreffer!«

Die Tänzerinnen stießen schrille Schreie aus, während sie ihre Blöße damenhaft zu verbergen versuchten, und ließen einen Hagel rüpelhafter Schimpfwörter auf Tigwid niederprasseln. Das Geschrei und Gezeter mischte sich bald mit Gepolter von der Bühne. Ein Messer bohrte sich vibrierend in den Türrahmen, einen Zentimeter an Apolonias Hals vorbei. Im Gang standen die vermeintlichen Wurstdiebe.

»DA!«

»Los!« Apolonia stürzte hinter Tigwid her, sie kämpften sich an Tänzerinnen und Puderquasten vorbei, schlüpften durch die Tür und rannten die Treppe hinab. Wogen von hellem Gekreische ertönten hinter ihnen, dann trommelten Schritte auf den Stufen.

»Beeil dich!«, schrie Apolonia und schlug und drückte gegen Tigwid, der vor ihr rannte. Es war so dunkel, dass sie kaum die Stufen erkannten. Apolonia stieß hart gegen Tigwids Rücken, als die Treppe vor einer Tür endete. Mit rutschigen Fingern riss Tigwid die Tür auf.

Rotes Licht strömte ihnen entgegen. Die beiden stürzten voran, und kaum dass die Tür hinter ihnen zufiel, bohrten sich ein Dutzend Wurfmesser ins Holz.

Apolonia und Tigwid rannten durch stickig warme, dämmrige Zimmer, vorbei an Betten und Liegen voll dösender Gestalten. Eine Chinesin wich erschrocken vor ihnen zur Seite, sodass ihr fast die große Wasserpfeife aus den Händen fiel. Apolonia wurde klar, dass sie in einer Opiumhöhle gelandet waren. Laternenreich.

Irgendwo hinter ihnen erklangen laute Stimmen. Glas klirrte. Eine Zitterspielerin hielt mitten im Lied inne. Tigwid und Apolonia waren in einem Zimmer angekommen, aus dem keine Tür führte. Nur ein holzverziertes Fenster in der Wand.

Tigwid sprang auf das feine Seidenbett und schlüpfte durchs Wandfenster. Der Mann, der unter der Decke lag, stöhnte auf. Apolonia raffte Kleid und Mantel und folgte Tigwid in zwei Sätzen. Sie landete auf einem zweiten Bett, stolperte über die aufjaulende Person darin und fiel gegen merkwürdige Gerätschaften auf dem Boden.

Tigwid half ihr auf und sie durchquerten den großen, dunklen Raum. Am anderen Ende war ein Flur mit mehreren Zimmeröffnungen. Der Lärm ihrer Verfolger schien plötzlich näher. Schweiß glänzte auf Tigwids Stirn. Er drehte sich in jede Richtung, lauschte; die Stimmen und Schritte kamen von irgendwo ganz nah. Hinter den Wänden aus geschnitztem Holz schienen jedes Licht und jede Gestalt in Bewegung zu sein.

»Hier rein!« Tigwid lief in ein Zimmer - und stieß gegen jemanden.

Vor ihnen stand ein weißhaariger Mann mit einem Schnauzer, einer runden Goldrandbrille und wässrig grauen Augen. Sein Hemdkragen stand offen und in der Hand hielt er eine längliche Pfeife.

»Jorel. Du bist Jorel, richtig?«, sagte er leise. Sein Blick glitt zu Apolonia und seine trüben Augen glitzerten. Dann hörte auch er die wüsten Rufe. »Kommt, ich bringe euch hier weg.« Die Pfeife glitt ihm einfach aus der Hand und fiel auf den Boden. Der Mann drehte sich um und durchquerte das kostbar eingerichtete Zimmer, das ihm offensichtlich gehörte.

»Wer sind Sie?«, fragte Tigwid verblüfft.

Der Mann schob eine Schiebetür aus Seidenpapier auf und wies in einen dunklen Gang. »Für Fragen ist später Zeit. Jetzt müssen wir euch erst einmal von euren Verfolgern befreien.«

Apolonia spürte, wie Tigwid instinktiv zurückwich. »Erst Ihr Name.«

Der Mann schob seine Goldrandbrille zurecht und besah Apolonia mit einem langen, eingehenden Blick. »Mein Name ist Ferol. Professor Rufus Ferol.«

Die Dichter

Sie tasteten sich durch undurchdringliche Finsternis. Hin und wieder fasste Apolonia in Wasser, wo Rinnsale über das unebene Gestein liefen und der Gestank ihr fast den Atem raubte.

»Wo bringen Sie uns hin?«, fragte sie in die Dunkelheit. Sie merkte, dass der Mann immer wieder stockte und nur langsam lief, weil Tigwid vor ihr oft innehielt.

»Labyrinth, Kinder. Das hier ist ein privater Geheimgang. Eure Verfolger werden ihn nicht finden.«

»Wieso helfen Sie uns?«, wollte Tigwid wissen. Für mehrere Augenblicke waren nur ihre Schritte auf dem rauen Steinboden zu hören.

»Ich helfe eben, wo ich kann.«

»Und woher kennen Sie meinen Namen?«

Apolonia lief Tigwid in den Rücken, als sie abermals stehen blieben. Ihre Hand glitt über die Wand - und über eine Klinge. Tigwid hielt ein Messer in der Faust.

»Aber -«

»Schschsch!« Sie spürte seinen Atem an der Stirn. »Zur Sicherheit«, flüsterte er.

Sie gingen weiter. Apolonia stolperte benommen voran.

»Wir sind gleich da. Seid ihr beide noch zusammen?«

»Ja«, antwortete Tigwid nach einem Moment. Apolonia spürte, wie er anhielt, obwohl ihr geheimnisvoller Führer weiterging. Nach einigen Augenblicken setzte auch er sich wieder in Bewegung. Nun waren sie nicht mehr unmittelbar hinter dem Professor.

Apolonia fragte sich, ob Tigwid wirklich mit einem Messer umgehen konnte. Irgendwie war es schwer vorstellbar, dass er mit Waffen kämpfen konnte - schließlich war er doch kaum älter als sie selbst. Andererseits hätte sie auch nie gedacht, dass sie einmal durch eine Opiumhöhle sprinten würde, eine mordlustige Verbrecherbande auf den Fersen. Die Welt war voller Überraschungen.

Irgendwann erschien ein schummriger Lichtfleck vor ihnen.

»Da ist es schon, Kinder. Labyrinth.« Der Professor deutete nach vorne. Das matte Licht zeichnete ihre Umrisse nach, und Apolonia sah, dass der Mann torkelte. Er stand ganz offensichtlich unter dem Einfluss von Rauschgift.

Vor ihnen tauchte eine Türöffnung auf. Der Professor trat ins körnige gelbe Licht und strich langsam seinen Kragen glatt. Dann wandte er sich zu Tigwid und Apolonia um. Zögernd kamen sie aus dem schmalen Gang. Sie befanden sich in einem Zimmer voller Schatten, sodass man seine Größe nicht einschätzen konnte. Aus den Augenwinkeln sah Apolonia, dass sie nicht alleine waren. Ein Kreis aus dunklen Holztischen stand zu ihrer Linken, an denen sechs Männer saßen. Und lasen.

Sie lasen aus dicken, großen Büchern, hatten sich tief über die Seiten gebeugt, und die Öllampen auf den Tischen ließen Schatten über ihre Rücken hüpfen.

»Meister«, hauchte der Professor und fuhr sich über seine zerknitterte Weste. Die sechs Männer regten sich. Träge hoben sie die Köpfe, das schwankende Licht erhellte ihre Gesichter. Apolonia hatte das Gefühl, zu einem Eiszapfen zu gefrieren, als sich zwei flackernde dunkelgrüne Augen auf sie richteten.

Professor Ferol neigte den Kopf und fuhr nervös mit den Händen durch die Luft.

»Ich habe ganz zufällig den Jungen getroffen, Meister, er ist mir sozusagen in die Arme gerannt, und mit ihm das Mädchen!«

Apolonia konnte sich nicht bewegen, als ein Lächeln über das bleiche Gesicht des Mannes kroch. »Na so was. Es ist also Magdalenas Tochter. Das Ambiente lässt zwar sehr zu wünschen übrig, aber es freut mich, dich wiederzusehen.«