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Sie schluckte trocken, um ihre Stimme zu finden. »Was tun Sie hier, Herr Morbus?«

Jonathan Morbus strich mit dünnen Fingern über die aufgeschlagene Seite seines Buches, dann klappte er den schweren Folianten zu und erhob sich. Er war längst nicht so gepflegt und vornehm wie am Hochzeitstag von Apolonias Tante - fettige Strähnen hingen ihm ins Gesicht und sein Schlips saß locker - und doch schien die Nachlässigkeit seine natürliche Eleganz nur zu unterstreichen. Die Schatten unter den Augen und Wangenknochen schmeichelten ihm beinahe. Apolonia merkte, wie Tigwid sich neben ihr anspannte, als Morbus um den Tisch herum auf sie zukam.

»Wer sind Sie?«, fragte er. Der träge Blick des Schriftstellers hing einen Moment an ihm; dann wandte er sich an Professor Ferol und machte einen kleinen, müden Wink mit der Hand. Der Professor stammelte: »Ja, Meister«, und fuhr zu Tigwid herum. »Du stehst den Dichtern gegenüber, Junge! Die Dichter, die Sammler und Schöpfer der größten und schönsten Geschichten der Erde! Das ist eine Ehre, eine Ehre, dem Meister und seinen Lehrlingen gegenüberzustehen!«

Tigwid betrachtete den alten Professor mit gerunzelter Stirn. »Aha. Und wieso hast du uns hergeführt, Rufus?«

Professor Ferol schien entrüstet, dass Tigwid ihn mit seinem Vornamen angesprochen hatte. Aber bevor er etwas sagen konnte, fiel ihm Morbus ins Wort.

»Ich bin dir zu Dank verpflichtet«, sagte er und verschränkte die Hände hinter dem Rücken. »Vielen Dank, Junge, dass du uns das Mädchen gebracht hast.«

»Was?«, sagten Apolonia und Tigwid gleichzeitig. Sie sahen sich an.

»Ich hab nicht -«, stotterte er.

»Eck Jargo ist voller lauschender Ohren.« Morbus’ Gesicht tat sich zu einem dünnen Lächeln auf. Seine Zähne schimmerten blank wie aus einem Totenkopf. »Wir Dichter mögen nicht die Gabe des Hellsehens besitzen, aber wir wissen doch unser Gehör einzusetzen. Wir haben dich belauscht, Jorel, als du mit einer Mottenseherin in der Wiegenden Windeiche gesprochen hast. Wie hieß das Mädchen doch gleich? Ah ja, Bonni.«

Apolonias Augen weiteten sich. Ihr Hals fühlte sich plötzlich sehr trocken an, als sie zu begreifen versuchte, was offensichtlich war. »Motten.«

Die Blicke der Dichter richteten sich auf sie.

»Sie - Sie sind eine Motte, Herr Morbus! Das war Tigwids Prophezeiung ... Ich bringe ihn zum Buch der Antworten, und das ist im Besitz der Motten ...«

Tigwid schob sich kaum merklich vor Apolonia. »Das Buch der Antworten, ihr habt es! Darf Apolonia es sich mal ansehen, bitte?«

Plötzlich brach Morbus in Gelächter aus. Die anderen Dichter stimmten ein, leise und keuchend wie Hyänen.

»Das Buch der Antworten!«, kicherte Morbus. »Hast du wirklich gedacht, es gibt so was? Der alte Collonta war erfolgreicher, als ich dachte!« Er beugte sich zu Tigwid vor. »Das Buch war nur eine Falle von dem alten Fuchs Collonta, um an das Mädchen zu kommen.«

Tigwid schluckte. Dann wies er auf die Bücher, die die Dichter am Tisch in ihren Armen hielten. »Wenn es kein Buch der Antworten gibt, was sollen dann diese Dinger da sein?«

Morbus grinste. »Diese Dinger sind unsere Werke, die größten Schätze der Welt.«

»Das glaube ich erst, wenn Apolonia es bezeugt. Die Prophezeiung besagt, dass sie mir die Antwort auf meine sehnlichste Frage bringen wird, und ich glaube daran.«

»Dummkopf!« Morbus schüttelte den Kopf. »Es gibt nur eine Prophezeiung: dass du Rotzbengel das Mädchen finden wirst. Und das hast du.«

Apolonia trat einen kleinen Schritt zurück, als Morbus sie anstarrte. Seine Augen schienen sich in sie hineinzufressen ... »Was wollen Sie von mir?«

»Oh, wir wollen nichts von dir. Wir wollen dich, Apolonia.« Morbus lächelte nachdenklich, dann strich er um Professor Ferol herum und kam noch näher. »Weißt du, du bist von großer Wichtigkeit für uns. Hätte ich früher geahnt, dass du es bist, wäre ich natürlich viel höflicher vorgegangen und hätte dir erspart, in Kontakt mit solchem Abschaum zu kommen.«

»Der Abschaum bist du, Fettkopf«, knurrte Tigwid und hob sein Messer. Einige Dichter am Tisch sprangen auf angesichts der Waffe. Aber Morbus schien unbeeindruckt.

»Vorsicht, wie du mich nennst. Du hast bei so vornehmer Gesellschaft wohl vergessen, zu welcher Klasse du gehörst.«

Tigwid richtete sein Messer auf den Schriftsteller. »Wenn du näher kommst, lernst du meine Klasse schon kennen. - Geh zurück in den Gang, Poli.«

»Keine Bange, Apolonia.« Morbus hob beschwichtigend die Hände. »Wir werden dich gleich von diesem Pöbeljungen befreien. Hol mir mein Buch, Ferol.«

Der Professor eilte zum Tisch, nahm den schweren Folianten und brachte ihn Morbus. Der Schriftsteller nahm ihn entgegen und begann zu blättern. »Du hast also eine kleine Metallklinge, wie rührend. Nun, ich wähle mir in diesem Duell die Sprache zur Waffe. Wir wollen sehen, was stärker ist!«

Plötzlich drehte Morbus sein Buch um und streckte es Tigwid entgegen. Verwirrt starrte Tigwid die dunkelroten Buchstaben an. Die Dichter hielten gespannt den Atem an. Morbus lächelte triumphierend. Als Tigwid weiterhin fragend auf die Seite starrte, zerlief sein Lächeln zu einer Grimasse.

»Was ist?«, rief Morbus und streckte das Buch noch weiter vor. »Nun lies! Lies!«

Tigwid presste die Lippen aufeinander.

Morbus stierte ihn an. »Du kannst nicht lesen ... Das hätte ich mir denken müssen.« Verächtlich ließ er das Buch sinken und richtete sich auf. »Schnappt ihn.«

Die Männer an den Tischen standen auf und stürzten sich auf Tigwid.

»Lauf, Apolonia!« Er fuhr herum und zog sie zum Gang - aber zu spät. Schon hatte ihn Professor Ferol am Arm gepackt. Tigwid drehte sich um und das Messer blitzte über ihnen auf. Der Professor ließ ihn schreiend los und hielt sich den Arm. Blut tropfte zu Boden. Zwei weitere Dichter ergriffen Tigwid und rangen ihn nieder. Einem trat Tigwid ins Gesicht, dem anderen zwischen die Beine, ein Dritter fiel über ihn und versuchte, ihm das Messer aus der Hand zu winden. Apolonia hatte sich einen Schuh ausgezogen und wollte mit ihm bewaffnet in die Schlägerei einschreiten, da schloss sich ein eiserner Griff um ihr Handgelenk.

»Keine Sorge, das dauert nicht mehr lange«, sagte Morbus kalt.

»Lassen Sie mich los!« Apolonia holte mit ihrem Schuh aus.

Plötzlich erklang ein Knall. Ein paar Dichter stießen erschrockene Schreie aus, Apolonia zuckte zusammen, und Morbus hob schützend einen Arm über den Kopf, als Staub von der Decke rieselte. Wieder knallte es, zweimal, dreimal. Es waren Pistolenschüsse.

»STEHEN BLEIBEN! ALLE SIND FESTGENOMMEN!«

Aus den Schatten des Zimmers tauchten vier Polizisten auf. Innerhalb von Sekunden hatten sie die Dichter, Apolonia und Tigwid umzingelt. Pistolen richteten sich auf ihre Köpfe. Erst jetzt hörte Apolonia Schreie und wildes Schießgetrommel in der Ferne. Eck Jargo wurde gestürmt!

Ein Lächeln entfaltete sich auf ihrem Gesicht, erst zögerlich, dann immer breiter. Die staubigen Haarsträhnen wehten in ihrem Atem, als sie sich an die Dichter wandte, die über Tigwid erstarrt waren. »Ganz recht, ihr seid festgenommen, alle zusammen! Jetzt wird die ganze Welt erfahren, dass es Motten gibt, und ich habe euch gefasst. Legt die Männer in Handschellen!«, befahl sie den Polizisten triumphierend.

Tigwid sprang auf.

»Keine Bewegung!«, rief ein Polizist.

»Du hast Eck Jargo verraten!«

Apolonia sagte nichts. Was hatte er denn gedacht? Dass sie wirklich an einem blöden Buch interessiert war?