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»Meine Herren, hier liegt ein Missverständnis vor.« Morbus senkte langsam die Hände. »Ich möchte Sie bitten, hier einen Blick hineinzuwerfen. Es wird erklären und rechtfertigen, weshalb ich mich an diesem Ort aufhalte.« Gelassen öffnete er sein Buch und hielt es den Polizisten vor. Für Sekundenbruchteile glitten die Augen der Blauröcke über die Seiten. Damit besiegelten sie ihr Ende.

Schreckensbleich beobachtete Apolonia, wie ein Polizist nach dem anderen seine Waffe fallen ließ. Starr kamen sie auf das Buch zu. Ihre Augen zuckten, so schnell lasen sie die Worte ab. Der Erste begann zu wimmern. Tränen liefen einem anderen übers Gesicht. Dann stießen sie gellende Schreie aus, zerrten an ihren Haaren und Kleidern und sanken zu Boden. Ihre Arme und Beine zuckten wie elektrisiert, dann bewegten sich die vier Männer nicht mehr. Ihre aufgerissenen Augen starrten ins Leere. Stille. Sie waren tot.

Morbus klappte laut das Buch zu. Langsam drehte er sich zu Apolonia um. Nie in ihrem Leben hatte sie so viel Grauen verspürt wie in diesem Moment. Sie starrte Morbus an, der das Buch unter den Arm klemmte und schwarze Lederhandschuhe aus seinem Umhang zog. In der Ferne schwoll Kampflärm an, Schüsse fielen und Schreie hingen in der modrigen Luft.

»Nanu. Unser kleiner Gossenbengel ist ja schon verschwunden«, bemerkte Morbus. Die Dichter richteten sich ächzend wieder auf und kamen auf sie zu. Apolonia wagte einen Blick hinter sich. Tigwid war tatsächlich nicht mehr da. Sie war ganz alleine ...

»Meine Herren, ich denke, es ist Zeit zu gehen.« Morbus klopfte sich den Staub vom Umhang, während die Dichter einen Kreis um Apolonia schlossen.

Vampas Bücher

Tigwid hatte oft denselben Albtraum gehabt. Er hatte geträumt, dass er irgendwo einschlief und von der Polizei gefunden wurde. Er hatte geträumt, dass er eingesperrt wurde und Handschellen trug, zu denen es keinen Schlüssel mehr gab. Aber dass Eck Jargo gestürmt werden könnte, das hätte er sich in seinen kühnsten Träumen nicht ausgemalt. Als er den dunklen Geheimgang hinter sich gelassen hatte, durch das Zimmer des Professors rannte und in Laternenreich ankam, herrschte rings um ihn Panik. Kreischende Serviermädchen kamen ihm entgegen, Schüsse sprangen durch die Luft und rissen Löcher in die kunstvollen Holz- und Papierwände. Tigwid stolperte an Opiumträumern vorbei, die stöhnend aus ihren Betten krochen, er duckte sich unter dem Knüppelschlag eines Polizisten hinweg, drängte sich durch den dichten Strom flüchtender Menschen, die eine geheime Treppe nach oben nahmen, und konnte an nichts denken, als dass dies der Untergang war. Es war aus mit Eck Jargo. Für immer. Vielleicht auch mit seinem Leben.

Hinter ihm knallte es. Ein Schrei erklang direkt neben Tigwid, ihm gefror das Blut in den Adern - ein Mann versank mit einem Kopfschuss in der Menge. Tigwid rang nach Luft. Schon drängten ihn die aufgebrachten Massen voran.

Die Treppe führte an die eisenbeschlagene Tür von Laternenreich. Sie war aufgebrochen. Drei Polizisten standen auf der Schwelle und feuerten in die Menschenmenge. Warme Flüssigkeit spritzte Tigwid auf Stirn und Haare, er duckte sich erschrocken und spürte, wie er nach hinten gedrängt wurde, als die vordersten Männer erschossen zurücksanken. Fremde Füße stiegen auf seine, Ellbogen stießen ihm in die Rippen. Dann waren die drei Polizisten mit Schlägen und Tritten überwältigt und die Flüchtlinge rannten einfach über sie hinweg.

Keuchend taumelte Tigwid mit und fand sich in Bluthundgrube wieder. Die Bilder, die sich ihm boten, waren viel zu grotesk, als dass er sie hätte begreifen können. Ein Boxer hing mit mehreren Kugeln in der Brust in den Seilen. Die Gläser und Flaschen an der Theke waren zerbrochen, die Tische umgeworfen. Eine Tänzerin schrie, als ein Polizist sie an den Haaren festhielt. Dann schlug eine zweite Tänzerin den Mann mit einem Stuhl nieder. Die beiden Frauen rannten blindlings in eine Richtung und wurden von einer ganzen Polizeitruppe aufgefangen.

Tigwid torkelte wie benommen durch die Zerstörung.

Ein Blaurock packte ihn grob am Arm, schwenkte ihn herum und zog ohne langes Zögern Handschellen aus seinem Gürtel. Tigwid holte mit dem Fuß aus, als wollte er ihm einen Tritt verpassen; der Polizist wich mit dem Unterkörper zurück. Darauf hatte Tigwid nur gewartet. Blitzschnell holte er mit der freien Hand aus und gab dem Mann links und rechts vier flinke Ohrfeigen. Ein klassischer Zug. Schmerzvoller, als es aussah, und höchst verwirrend für das Opfer.

Doch der Polizist erholte sich erstaunlich schnell, schnappte nach Tigwids Kehle und begann, unter wilden Flüchen zu würgen. Tigwid zerrte an den Wurstfingern, doch sie hielten ihn fest wie Schraubstöcke. Er bekam keine Luft mehr. Funken tanzten vor seinen Augen ... Da sah er seine Rettung: Eine große Wetttafel stand genau vor ihnen. Tigwid konzentrierte sich mit aller Macht ... Plötzlich erbebte die Tafel. Ein Zittern durchlief die Holzständer, dann krachte die Tafel vornüber und begrub den Polizisten unter sich. Tigwid war gerade rechtzeitig zur Seite gesprungen. Die Handschellen klapperten auf den Boden.

Zitternd befühlte er seinen Hals. Normalerweise hätte er seine Mottengabe nicht so öffentlich eingesetzt, doch angesichts des Chaos war es gewiss niemandem aufgefallen.

Er ging ein paar Schritte rückwärts, dann drehte er sich um und lief über den scherbenübersäten Boden. Vor ihm lag die Tür, die geradewegs aus Bluthundgrube und hinauf zur Rezeption führte. Wenn er Glück hatte, schaffte er es bis in Fräulein Friechens Teestube, dann durch den Ausgang und den Hinterhof, durch das Loch im Zaun ... Er sah die Straße vor sich, die ihn in das Gassenlabyrinth des Armenviertels entlassen würde, direkt hinein in die Freiheit. Er klammerte sich an dieses Bild. Gleich. Gleich war er dort.

Schüsse trafen den großen Thekenspiegel rechts von ihm und Tigwid hob schützend die Arme. Tausend glänzende Splitter flimmerten in der Luft.

Plötzlich taumelte ein Junge vor ihn. Er trug Bandagen um die Fäuste und kein Hemd. Schwarze, zerfranste Haare hingen ihm in die Stirn. Er sah Tigwid an. Ein merkwürdiges Entsetzen loderte in seinen dunklen Augen auf, und auch Tigwid erschrak - aber noch im gleichen Moment vergaß er, wovor. Er wich dem Jungen aus und lief an ihm vorbei. Endlich hatte er die Tür erreicht. Vor ihm lag ein Wächter auf dem Boden und rührte sich nicht.

»Gabriel.«

Der Name traf ihn wie eine Kugel. Tigwid drehte sich um.

Vor ihm stand der Junge mit den schwarzen Haaren. Er starrte ihn an, als höre er weder die Schüsse noch das Schreien und Brüllen rings um sie.

Aber Tigwid hatte jetzt keine Zeit, um sich verwirren zu lassen. Er drehte sich um, ließ den merkwürdigen Jungen stehen und stieg über den toten Wächter hinweg.

»Du kannst nicht da hoch«, hörte er den Jungen hinter sich sagen. Obwohl er klar sprach, fiel es Tigwid schwer, ihn zu verstehen. Es war, als ergaben seine Worte keinen Sinn.

»Da oben sind mehr als zweihundert Polizisten. Und von Minute zu Minute werden es mehr.«

Tigwid trat einen Schritt zurück und stellte sich dicht vor den Jungen. »Ach ja?«

»Ja.«

»Und warum tust du so, als würdest du nicht mit in der Kacke stecken?«

Der Junge musterte einen Augenblick lang Tigwids Gesicht, auf dem sich Schweiß und Blut, Wut und Angst und Verzweiflung mischten.

»Wenn es noch einen Ausweg gibt, dann durch Labyrinth und den Untergrund.«

Tigwid zog den Kopf ein, als ein Schuss über ihn hinwegpfiff. Der Junge bewegte sich keinen Zentimeter.

»Und ich geh mal davon aus, dass du mir den Weg zeigen willst, oder?«, keuchte er.

»Ja.«