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Tigwid fand seine Fassung wieder. »Also, danke, dass du mir geholfen hast. Ich weiß nicht, wieso du das getan hast, aber ich bin dir wirklich -«

»Deshalb habe ich es getan.« Der Junge drehte sich um und zog ein dunkelrotes Lederbuch aus einem Stapel. Mit behutsamen Händen legte er es Tigwid auf den Schoß. Tigwid sah es an, klappte den Deckel auf und strich durch die Seiten. Es war alles handgeschrieben, mit dunkelroter Tinte, ähnlich wie das Buch, das Morbus ihm heute vorgehalten hatte ... Tigwid warf Vampa einen argwöhnischen Blick zu. Dann klappte er das Buch zu und stieß es ihm unsanft in die Arme.

»Den Trick hat heute schon mal jemand versucht!« Blitzschnell zog er sein Messer und hielt es Vampa an die Kehle. »So. Jetzt sagst du mir ganz genau, wer du bist und wieso du mich hergebracht hast. Was hat es mit diesen Büchern auf sich? Wieso wollt ihr alle, dass ich sie lese?«

Der Junge sah ihn vollkommen gelassen an. Dann huschte ein wölfisches Lächeln über sein Gesicht. »Angesichts meiner Schusswunde - und sie ist tödlich, in einer Stunde werde ich verblutet sein -, angesichts dessen solltest du wissen, dass dein Messer mich nicht besonders einschüchtert.«

»Wer bist du?«

Vampa senkte den Blick und schloss beide Hände um das Lederbuch. Eine Weile tat er nichts, als es zu betrachten und zu halten. »Es fühlt sich so fest, so echt an. Man kann leicht sagen, was das Buch ist. Ein magisches Gedächtnis, in dem das Leben mit Worten gefangen ist. Wenn ich doch ebenso leicht erklären könnte, was ich bin... Weißt du, wer du bist, Gabriel?«

»Was geht dich das an?«

»Du hast recht. Ich weiß ja schon längst, wer du bist.« Vampa legte ihm wieder das Buch auf den Schoß, ungeachtet der Klinge, die ihm gegen den Hals drückte. »Lies es. Lies meinetwegen nur die erste Seite. Lies, wie das Buch heißt.«

Ein Zucken ging um Tigwids Mundwinkel. »Ich kann nicht lesen, in Ordnung? Soll ich das noch von irgendeiner Brücke aus schreien oder muss ich es jedem Einzelnen in dieser gottverdammten Stadt persönlich sagen?«

»Es heißt Der Junge Gabriel.«

Tigwid starrte ihn an. Dann ließ er das Messer sinken, schlug das Buch auf und hielt es sich direkt vors Gesicht. Wütend starrte er die Buchstaben an, die er nicht verstand. Er entzifferte ein G. G wie Gabriel. Vielleicht. Er blätterte nervös durch die ersten Seiten und erstarrte. Da war ein Bild, eine Tuschezeichnung. Von ihm.

Mit offenem Mund glotzte er sich selbst an. Das Portrait blickte aus seinen Augen zurück. Ganz unverkennbar, er war es, sein Gesicht, seine Haare, sogar der zerschlissene Kragen seines Jacketts. Darunter saß eine kleine rote Motte, offenbar das Kennzeichen des Künstlers.

»Aber was ... was hat das zu bedeuten?« Betroffen und verwirrt ließ er das Buch sinken. »Ich habe nie Portrait gesessen ...«

Vampa rutschte näher. Er lächelte, doch es schien nichts mit ihm zu tun zu haben. »Du und ich, Gabriel, wir teilen dasselbe Schicksal. Ich habe auf der Suche nach meinem Buch deines gefunden. Ich habe es gelesen, deshalb kenne ich dich. Ich kenne deine Vergangenheit. Sie steht in diesem Buch. Als ich dich heute gesehen habe, habe ich dich sofort erkannt. Du bist der Junge aus dem Buch. Du bist die Hauptfigur! Ich habe deine Geschichte gelesen und nun bin ich ein Teil von ihr ...«

»Was?« Tigwid wich zurück und stieß gegen einen Bücherhaufen. »Ich bin doch keine Figur in einem Buch, ich bin echt!« Wie zum Beweis schlug er sich auf die Brust.

»Ja, du bist echt«, sagte Vampa langsam. »Aber auch in diesem Buch bist du echt. Wir beide teilen uns jetzt deine Vergangenheit. Ich weiß Dinge von dir, die man dir gestohlen hat. Und du kannst sie dir nicht zurückholen. Du kannst ja nicht lesen.«

Tigwid schauderte. »Was hast du von mir?«

Der Junge neigte den Kopf nach rechts und links und beobachtete Tigwid durch seine wirren Haare hindurch. »Ich habe dein Glück.« Seine Hand legte sich auf den Buchdeckel, ehrfürchtig wie auf einen unermesslichen Schatz. »Ich habe alle glücklichen Augenblicke deines Lebens bis zu deinem fünfzehnten Lebensjahr. Bis zu einem Tag im Juni, ein warmer Tag, in der Früh hat es aber noch geregnet, Dampf hing in den Gassen, und Pfützen schillerten im Sonnenlicht, du bist zu Eck Jargo gegangen, hast dort einen Mann getroffen, an den du dich nicht mehr erinnern kannst, einen Mann, der dir Geld angeboten hat, nicht viel, um ehrlich zu sein, er hat dir Geld gegeben, damit er dir etwas vorlesen darf, er hat gesagt, es sei ein Brief an einen Mann namens Mone Flamm, für den du arbeitest, und du solltest den Brief hören und sagen, ob er angemessen sei. Aber der Mann hat dir nichts vorgelesen, er hat dir an diesem Tag deine glücklichsten Erinnerungen gestohlen, und auch die Erinnerung an eure Begegnung hat er weggenommen und in dieses Buch geschrieben, damit du es nie erfährst.«

Stille trat ein. Tigwid wusste nicht, was er sagen sollte. Nicht, was er denken sollte. Sein Glück - gestohlen? Eingeschlossen in dieses seltsame Buch? Aber wie sollte jemand etwas aus seinem Kopf stehlen können - oder gar aus seinem Herzen? Nein, nein, das war unmöglich!

Aber wenn es doch stimmte ... War das der Grund für seine schlaflosen Nächte? Für die namenlose Leere in ihm, das Heimweh nach etwas, das er nicht kannte ... vielleicht nicht mehr kannte.

»Du lügst«, sagte er schwer. »Das kann nicht sein, du lügst!«

»Wieso sollte ich. Schau doch ins Buch, da drinnen ist dein Bild.«

»Wer hat das gemalt?«

»Es muss der Verfasser des Buches sein. Rufus Ferol.«

»Ruf- dieser Professor?!« Tigwid sprang auf. »Was genau hat er mir gestohlen?«

Vampa nahm das Buch in die Arme. »Hunderte von Erinnerungen. Sie füllen ganze Tage, ganze Wochen aus. Deine schönsten Erlebnisse.«

Hilflos senkte Tigwid die Fäuste. Erst nach einer Weile merkte er, dass er am ganzen Leib zitterte. »In diesem Buch sind all meine glücklichen Erinnerungen.«

Vampa nickte. »Ja.«

Ein bitteres Lächeln grub sich in Tigwids Gesicht. »Das glaub ich nicht! Verdammte Kacke. Und ich dachte ... ich hab gedacht, ich hätte immer ein Drecksleben gehabt. Dieses Schwein Ferol, ich werd ihn finden und - und -«

»Siehst du jetzt? Dir hat man das Glück genommen. Mir alles.«

»Welcher - kranke - kranke Irre macht so was?«

»Ich glaube, das sind die Dichter, von denen du vorher gesprochen hast.«

Tigwid ließ sich auf die Knie fallen und nahm Vampa das Buch aus den Händen. Hastig durchblätterte er es, zerrte an den Seiten und ließ den Blick über die winzigen Schriftmuster irren. »Wie geht das? Das da - das bin ich? In der Schrift

»Die Schriftsteller müssen Motten sein. Anders ist es nicht zu erklären. Irgendwie sperren sie Menschen in ihre Wörter. Hier, alles ist mit Blut und Tinte geschrieben. Deinem Blut.«

»Mein ...? Aber ...«

Vampa nahm vorsichtig Tigwids Arm und strich Jackett und Hemd zurück. An der Innenseite seines Oberarms war die Narbe eines Messerschnitts. Alt konnte sie nicht sein, höchstens ein halbes Jahr.

Tigwid öffnete den Mund, brachte aber kein Wort hervor. Bis jetzt hatte er geglaubt, sich den Schnitt bei einem Krawall in der Roten Stube geholt zu haben, als er ein Bier zu viel getrunken hatte. Vampa ließ seinen Arm los, strich sein eigenes Hemd hoch und hielt einen fast identischen Schnitt an der Innenseite seines Oberarms neben Tigwids.

»Siehst du.« Vampa hielt nun seinen anderen Arm daneben. Auch hier war eine Schnittwunde, dick und buckelig. »Wir beide, wir teilen dieselbe Vergangenheit, Gabriel.«

Es war, als hätte er sein ganzes Leben geschlafen und erfahre erst jetzt, was er während der langen Zeit geträumt hatte. Tigwid saß ganz klein auf der zerfledderten Matratze, die Beine an die Brust gezogen und das Kinn auf die Knie gestützt. »Lies mir vor«, bat er Vampa mit erstickter Stimme. »Ich ... bitte. Lies mir vor, was da drinnen steht.«