»Meine Mutter wurde als erste Tochter von Aramis und Viola Saat geboren. Ihre Kindheit verlief meines Wissens friedlich und unspektakulär. Sie zeichnete gerne und lernte außerdem bei ihrer Mutter Klavierspielen. Im Alter von achtzehn Jahren heiratete sie Alois Spiegelgold, den ältesten Sohn der berühmten Buchhändlerfamilie Spiegelgold. Man wollte ihn enterben für die Frechheit, unter seinem Stand zu heiraten. Doch bevor Alois Spiegelgold senior sein Testament ändern konnte, starb er an einem Herzinfarkt, und zwar gerade in dem Augenblick, da die Heirat bekannt gegeben wurde. Wenig später kam ihre erste und einzige Tochter, Apolonia Magdalena Spiegelgold, zu-« Das Wort endete in einem abrupten Tintenstrich. Die Zimmertür schlug auf.
»AP-PO-LO-NI-A!« Ein Mann galoppierte herein.
Mit einem schmerzhaften Ziepen in der Brust erkannte Apolonia, dass ihr Vater seine Hose wie einen Turban auf dem Kopf trug und sich die Schuhe mit den Schnürsenkeln an die Ohren gebunden hatte. Mit jedem Hüpfer schlenkerten sie ihm um den Hals.
»AP-PO-LO-NI-AAA!«, trällerte er weiter.
Sie stand auf, schloss das Tagebuch und hatte sicherheitshalber sofort den Korken in das Tintenfässchen gesteckt. »Hallo, Vater. Und, bist du gerade ... viel beschäftigt?«
Er ging langsam in die Knie, bis sein Gesicht in der Höhe von ihrem war. »Ich bin ein roter Hase!«
Apolonia blickte blinzelnd zu Boden, als er die Nasenflügel vor Erwartung blähte. »Oh. Das ist ja wirklich schön. Ähm ...« Sie klopfte ihm beschwichtigend auf den Arm, über den er einen alten Strumpf von Trude gestreift hatte. »Wir sollten in dein Zimmer gehen und dann spielen wir Schach, in Ordnung?«
Alois Spiegelgold quiekte. »Nein! Ich bin ein grün gestreiftes Käääälblein! Du - musst - mich - KRIEGEN!« Er sprang zurück und huschte hinter ihren Schreibtisch. »Hasenjagd!«
»In Ordnung.« Apolonia kam vorsichtig näher. Ihr Vater glitt um den Tisch. Sie machte einen schnellen Satz auf ihn zu. Alois Spiegelgold johlte vor Aufregung, hechtete aus ihrer Reichweite und rannte mit wild schlotternden Schuhen aus dem Zimmer.
»Dann zieh dir wenigstens die Hose an!«, brüllte Apolonia ihm nach. Fluchend raffte sie den Rock und rannte hinterher. Wenn ihr Onkel das erfuhr ... Sie trug schließlich die Verantwortung für ihren Vater.
Gleich vor ihrer Zimmertür blieb sie allerdings stehen. Alois Spiegelgold hatte sich im Flur versteckt. Mit einem Wassereimer.
Apolonia stieß einen schrillen Schrei aus, als ihr die kalte Flut über den Kopf stürzte.
Da stand sie dann, tropfend auf dem persischen Teppichläufer, während ihr Vater davonhoppelte.
Wenigstens war er heute gut gelaunt. Es kam auch vor, dass er Apolonia für ein herumschnüffelndes Dienstmädchen hielt und sie mit Fächerschlägen und Wattebäuschen traktierte. Verdrießlich blinzelte Apolonia sich Wasser aus den Augen. Alois Spiegelgold hatte sich sehr verändert.
Drei Monate waren verstrichen, seit sie ihn in den Trümmern der Buchhandlung gefunden hatte, über und über mit Ruß bedeckt und an die verkohlten Gardinenfetzen geklammert. Seit dem Brand war ihr Vater nicht mehr derselbe ... Apolonia seufzte. Um es klar auszusprechen: Er war seitdem geisteskrank, verrückt, irr - absolut durch den Wind.
Nichts war seitdem wie früher. Das Geld, die schöne, große Buchhandlung, in der es nach dunklen Holzregalen und Papier und frischer Druckerschwärze gerochen hatte, der angesehene Name - es war alles verloren. Apolonia zog zu ihrem Onkel und ihrer Tante und wurde von der katholischen Nonnenschule genommen, die sie seit ihrem sechsten Lebensjahr besucht hatte. Doch welcher Onkel zahlte schon so viel Geld, nur damit seine Nichte religiös wurde? Elias Spiegelgold gewiss nicht.
Anfangs war Apolonia nicht bewusst gewesen, was es bedeutete, die Schule zu verlassen. In den Nonnen hatte sie stets verbissene alte Jungfern gesehen, ihre Klassenkameradinnen waren nichts als dumme Gänse und während der meisten Messen hatte sie vor sich hin gedöst. Überhaupt war sie überzeugt, dass sich die Bildung, die man auf einer katholischen Mädchenschule erhielt, im Großen und Ganzen auf Stricken und Beten beschränkte; Apolonia nährte ihren Intellekt, seit sie lesen konnte, durch Bücher und bevorzugte es, ihre wissenschaftlichen Studien sonntagmorgens allein in ihrem Laboratorium zu betreiben. Nur dass sie jetzt kein Laboratorium mehr besaß. Ihr Haus war versteigert worden.
Trude war völlig aufgelöst gewesen, als Apolonia von der Schule genommen wurde. Seitdem schlug ihr Kindermädchen bei jeder Gelegenheit ein Kreuz, summte Kirchenlieder, wenn sie Apolonia anzog und das Badewasser vorbereitete, und fragte sie allwöchentlich, ob sie die Sonntagsmesse besuchen wolle.
»Nein«, war Apolonias Antwort darauf. Gott brauchte sie nicht. Sie hätte ihn gebraucht, als ihre Existenz in Rauch aufging. Sie hätte ihn gebraucht, als ihr Vater seine Geisteskraft verlor. Sie hätte ihn gebraucht, als ihre Mutter ermordet wurde. Für Gottes Hilfe war es jetzt ein bisschen spät.
Apolonia kam auf eine öffentliche Schule mit Jungen und Mädchen, die sich laut und rüpelhaft benahmen. Sie fühlte sich wie in einem Gefängnis voller Verbrecher: In den Pausen spielten die Kinder mit lebendigen Fröschen und Grashüpfern, rauchten Zigaretten und prügelten sich - nie im Leben hätte sie gedacht, einmal solcher Barbarei ausgeliefert zu sein. Apolonia weigerte sich beharrlich, neben einem Jungen zu sitzen, der sich während des Unterrichts die Fußnägel schnitt.
»Das ist eine Zumutung«, erklärte sie der Lehrerin, einer spitznasigen Frau, in deren Gesicht sich durch den jahrelangen Umgang mit Kindern Verächtlichkeit gegraben hatte. »Ich verlange einen Einzeltisch, oder ich sehe mich gezwungen, eine Beschwerde gegen Sie einzureichen.«
Ohne Vorwarnung gab die Lehrerin ihr eine Ohrfeige. Und noch ehe jemand ein Wort hätte sagen können, ohrfeigte Apolonia sie zurück. Das Toben im Klassenzimmer war so unbeschreiblich, dass Apolonia sich wie die Heldin in einer griechischen Tragödie vorkam.
Ihrem Onkel erzählte Apolonia, ihre herausragende Intelligenz sei der Grund gewesen, weshalb man sie der Schule verwies. Unter Grummeln und Knurren erklärte Elias Spiegelgold sich bereit, einen Hauslehrer für sie anzustellen. Seitdem verbrachte Apolonia friedliche Stunden zu Hause, in denen sie Herrn Klöppels facettenreichen Schnarchgeräuschen lauschte. Der Lehrer musste vor mehr als zwanzig Jahren offiziell pensioniert worden sein. Apolonia vermutete allerdings, dass er selbst zu Zeiten seiner geistigen Blüte kaum fähig gewesen wäre, ihr etwas beizubringen.
Und das alles musste Apolonia wegen jenes verhängnisvollen Tages ertragen, an dem das Feuer ihr Glück verschlungen hatte! Sie war gedemütigt und vernachlässigt worden. Und noch dazu war sie vollkommen alleine. Sogar ihr Vater hatte sich davongemacht und ihr an seiner statt ein dreijähriges Kind im Körper eines Vierzigjährigen hinterlassen. Immer mehr spürte Apolonia, wie sie ihn zu hassen begann. Wie konnte er so verantwortungslos sein, einfach verrückt zu werden - schließlich hatte er eine Tochter! Was war mit ihr? Wer kümmerte sich darum, dass sie glücklich war?