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Tigwid unterbrach sich in seinen Vorwürfen, als er ein leises Wimmern vernahm: Vampas Wunde war verschwunden. Ihm klappte der Mund auf.

»Wo ist die Kugel hin?«

»Alles kehrt dahin zurück, wo es hergekommen ist.« Schwerfällig richtete Vampa sich auf, fuhr sich über die unverletzte Schulter und wandte sich dem zerbrochenen Spiegel an der Wand zu. Nachdenklich berührte er die Spitzen seiner zotteligen Locken, die plötzlich viel länger waren als noch vor wenigen Augenblicken. Dann zog er ein Taschenmesser hervor und schnitt sich die Strähnen ab, bis sie so kurz waren wie Tigwids. Tigwid hatte das merkwürdige Gefühl, dass er mit Absicht versuchte, sich denselben Schnitt zu verpassen.

»Das ist unglaublich. Du kannst wirklich nicht sterben. Nur weil jemand deine Erinnerungen in ein Buch geschrieben hat.«

Vampa strich sich einen Seitenscheitel, der einfach nicht halten wollte, und steckte sein Messer wieder ein. »Zwischen einem normalen Buch und einem Blutbuch ist ein so großer Unterschied wie zwischen einem gemalten Bild und einem echten Menschen.«

Tigwid stützte sich mit den Armen auf die Knie. »Ich werde Ferol finden. Sobald er rückgängig gemacht hat, was er mir angetan hat, werde ich ihn - ich werd ihn... ich werde ihm schlimme Dinge antun!«

Plötzlich glitt ein Glänzen durch Vampas Augen. Er ließ von seinen Haaren ab und drehte sich zu Tigwid um. »Du hast doch die Dichter gesehen. Du, du weißt, wo sie sind! Wir können hingehen und bestimmt sind bei ihnen auch die Bücher ...«

»Wenn es den Ort noch gäbe - aber du hast ja gesehen, was mit Eck Jargo passiert ist. Und das alles wegen Apolonia!«

»Apolonia?«

»Sie hat die Polizei zu Eck Jargo geführt. Und ich habe sie hingebracht.« Tigwid blickte in seine Handfläche. Der Schnitt von der Scherbe, auf die er gefallen war, hatte eine dunkle Kruste gebildet.

»Wo ist sie jetzt?«

»Keine Ahnung. Wahrscheinlich bei den Dichtern.«

Gleichzeitig rissen Tigwid und Vampa die Augen auf. »Sie ist ...«, rief Tigwid.

»... bei den Büchern! Wenn du sie findest, wissen wir, wo die Dichter und die Blutbücher sind!«

Tigwid schüttelte hastig den Kopf. »Was redest du? Wir müssen uns beeilen! Sie ist bei den Dichtern!« Er sprang auf und stieß sich fast den Kopf an der Decke an. »Wer weiß, was die ihr antun - sie stehlen bestimmt ihre Erinnerungen, so wie dir und mir!«

»Ich dachte, sie ist eine Verräterin.«

Tigwid wich Vampas Blick aus. »Sie ist in Gefahr. Der schlimmsten, die man sich nur vorstellen kann.«

Vampa starrte ihn an. Dann erhob er sich, wie hypnotisiert von der Niedergeschlagenheit, die sich in Tigwids Gesicht spiegelte.

»Ja«, flüsterte er und fasste ihn am Arm. »Ich komme mit dir. Wir müssen Apolonia retten.«

Die Wahrheit

A polonia erwachte mit Kopfschmerzen, als würde ihr eine Herde Wildpferde durch den Schädel galoppieren. Sie stöhnte leise. Dann versuchte sie, die Beule zu betasten, die unter ihren Haaren pochte, und merkte, dass sie die Hände nicht bewegen konnte. Überrascht öffnete sie die Augen. Irgendwo links von ihr schwamm ein blasses Licht, eine Petroleumlampe, die auf einem grob gezimmerten Brettertisch stand. Sie selbst saß auf einem Holzstuhl - und ihre Hände waren an die Armlehnen gebunden. Hilflos schwenkte sie mit den Füßen durch die Luft. Sie trug nur noch einen Schuh.

Wo war sie?

Apolonia drehte den Kopf in jede Richtung. Sie befand sich in irgendeiner Lagerhalle. Überall stapelten sich Holzbretter, lahmgelegte Maschinen staubten vor sich hin. In einer Ecke waren Pakete aufgehäuft, in denen Stapel von vergilbten Papierbogen steckten.

Aus den Augenwinkeln sah sie, dass jemand hinter ihr war. Sie wandte den Kopf so weit herum, wie es ging, und spähte zurück.

Am anderen Ende der Lagerhalle standen Morbus und die Dichter. Im matten Licht trat ein junger Mann vor seinen Meister und schob den Ärmel hoch. Morbus schnitt ihm mit einem Skalpell in den Arm. Ein zweiter Dichter hielt eine kleine Schale darunter, um das Blut aufzufangen. Nun nahmen Morbus und der junge Dichter an einem Tisch Platz, während der andere Dichter Tinte in die Schale mit dem Blut goss. Morbus zog eine lange Schreibfeder aus dem Mantel und begann, auf ein Papier zu schreiben. Dabei wandte er den Blick nicht von seinem Gegenüber. Der junge Mann begann zu zittern. Er warf den Kopf zurück, öffnete die Lippen und zeigte zusammengebissene Zähne. Die anderen Dichter hielten ihn fest, als er von seinem Stuhl zu kippen drohte. Dann sank er mit einem Seufzen auf die Tischplatte. Morbus erhob sich und blies vorsichtig die Bluttinte auf dem Papier trocken. Während sich die anderen Dichter um den Bewusstlosen kümmerten, wandte Morbus sich um und kam mit schleichenden Schritten auf Apolonia zu.

»Guten Morgen, Fräulein Spiegelgold.« Er blieb so hinter dem Stuhl stehen, dass sie ihn nicht sehen konnte. Sie hörte ein leises Klicken. Schweiß trat ihr in den Nacken.

Morbus öffnete eine Taschenuhr. »Obwohl - Gute Nacht kann man durchaus noch sagen. Es ist drei Uhr dreiundfünfzig.«

Er beugte sich zu ihr vor. Sie fühlte seinen Atem auf der Kopfhaut. »Ich mag die Nacht lieber als den Tag. Für mich ist die Nacht erst vorüber, wenn das Tageslicht die ersten Schatten zeichnet. Womöglich liegt das daran, dass ich eine Motte bin. Uns sagt man die Vorliebe für künstliches Licht nach.«

»Wo bin ich?«, fragte Apolonia so beherrscht, wie sie konnte.

Morbus legte eine Hand an ihre Wange. »Keine Sorge, Fräulein Spiegelgold. Du bist unter Artgenossen.« Sein Lachen hätte von einer Klapperschlange stammen können. Als Apolonia das Gesicht abwandte, gruben sich kühle Finger unter ihr Kinn. »Würdest du mir einen Gefallen tun, meine Liebe? Lies doch bitte diesen Satz und sage mir, was du davon hältst.« Er drehte ihren Kopf nach vorne und hielt ihr mit der anderen Hand das Papier vor.

Sie kniff die Augen zu. »Auf den Trick falle ich nicht rein!«

Die Finger gruben sich so fest unter ihren Kiefer, dass ein jäher Schmerz durch ihre Schläfen schoss. »Öffne deine Äuglein ...« Sein Singsang schlug in einen barschen Ruf um: »Kastor, Jacobar!«

Apolonia hörte, wie zwei Dichter herbeieilten. Grobe Finger drückten ihr auf die Augenbrauen und zogen ihre zusammengekniffenen Lider auf. Sie drehte den Kopf, versuchte, die Hände abzuschütteln, aber jeder Widerstand war zwecklos. Das Papier wurde ihr vor die Nase gedrückt. Ihr Blick streifte die Schrift, und obwohl sie es nicht wollte, schlüpften die Buchstaben durch ihre Augen, durchwanderten ihr Hirn, fügten sich zusammen. Jetzt bewegte sie sich nicht mehr.

Die Hände ließen von ihr ab, nur Morbus beugte sich tiefer und war Wange an Wange mit ihr. »Lies es dir gut durch ...«

Apolonia hörte ihn nicht.

Du liebst die Dichter. Du bist ein Dichter. Du hasst Erasmus Collonta.

Tausend Bilder und Worte durchzuckten sie wie in wirren Träumen, die sich alle zu einem einzigen Traum verdichteten.

Trude, die ihr die Strümpfe anzieht. »Das junge Fräulein ist nun eine Dame ...« Sie blickt zu ihr auf und ein grünes Blitzen durchwandert ihre Augen. »Du bist ein Dichter!«

Ihr Vater, der ihr auf die Schulter klopft. »Wissen ist Macht, Apolonia. Sammle so viel Wissen wie du kannst und du wirst viel erreichen ...« Seine Hand an ihrer Schulter wird fremd und die Finger bohren sich in ihre Haut. »Du liebst die Dichter, Apolonia. Du hasst Erasmus Collonta!«