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Ihre Mutter, die lächelt, kühl und hell wie der Frühlingshimmel. »Du bist ein besonderer Mensch, Apolonia.« Dann verwandeln sich ihre Augen in die von Morbus, bohren sich gleißend in sie hinein. »Du bist ein Dichter, Apolonia. Du liebst sie. Du liebst sie! Du liebst sie!«

Sie selbst, wie sie vor dem Spiegel steht und ihr Gesicht betrachtet. Sie flüstert: »Wer muss schon klug sein, wenn er schön und reizend ist?« Sie neigt den Kopf. »Wer muss schön und reizend sein, wenn er klug ist!« Ihr stilles Lächeln verzerrt sich kaum wahrnehmbar. »Ich liebe die Dichter. Ich hasse Erasmus Collonta. Ich hasse Erasmus Collonta!«

Morbus lächelte. »Jetzt sind wir einer Meinung, nicht wahr? Saug die Wahrheit auf. Du liebst die Dichter. Du bist ein Dichter. Du hasst Erasmus Collonta.« Er senkte langsam das Blatt und drehte Apolonias Kopf, sodass er ihr in die Augen sehen konnte.

Mehrere Momente lang starrte sie ihn an wie eine Leiche. Dann blinzelte sie träge. »Ich ... die Dichter... nicht.« Sie schluckte trocken, denn ihre Stimme war nicht mehr als ein Atemringen. »... liebe sie ... nicht.«

Morbus ließ sie los und trat zurück, als hätte er sich verbrannt. »Was? Was hast du gesagt?«

Apolonia keuchte. Sie fühlte sich matschig wie Brei. Als hätte sie fünf Stunden lang versucht, eine schwierige Mathematikaufgabe zu lösen, zu der es keine Antwort gab. Ihr Inneres war aufgewühlt, Vergangenheit und Gegenwart und Zukunftsvisionen strömten durcheinander, Erinnerungen zerflossen mit Träumen und wahllosen Zusammenfügungen von Gedanken. Und überall und immer wieder die drei Sätze! Du liebst die Dichter ... Du bist ein Dichter ... Du hasst Erasmus Collonta! Aus jedem Winkel ihres Hirns schlüpften die Worte. Sie konnte kaum unterscheiden, was wahr war und was nicht; was ihre echten Erinnerungen waren und welche Worte Trude, ihr Vater, ihre Mutter, ihr Hauslehrer, Tigwid - nie gesagt hatten ...

»Wieso hat es nicht gewirkt?«, murmelte ein großer blonder Mann und warf einen Blick zu den anderen zurück. Noch immer lag der junge Dichter bewusstlos auf dem Tisch. »Es war Manthans echter Glaube!«

»Vielleicht war es nicht genug Blut«, überlegte Jacobar, ein kleinerer Dichter mit einem Schnauzer.

»Es war verdammt noch mal genug Blut!«, fauchte Morbus. Mit zuckenden Mundwinkeln strich er sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Das Mädchen ist eine Motte. Sie ist resistent.«

Jacobar und Kastor blickten auf Apolonia, die sich vor Übelkeit kaum aufrecht halten konnte. Morbus zerknüllte das Papier in der Faust.

»Wie ... machen ... Sie das?«

»Wie bitte, meine Liebe?« Morbus zog Apolonias Stuhl herum und ignorierte ihr kränkliches Augenrollen. »Du willst wissen, was soeben geschehen ist? Willst du wissen, was sich gerade in dein Köpfchen gebrannt hat, ja? Ich will es dir erklären, schließlich bist du eine Kameradin, eine Gleichgesinnte, eine Mitstreiterin, wenn du so willst. Hinter uns liegt, wie du zweifelsohne bereits erkannt hast, der ohnmächtige Dichter Michaelis Manthan. Er hat das Bewusstsein verloren, wie es für gewöhnliche Menschen nach den psychischen Strapazen, die er erleiden musste, nicht ungewöhnlich ist, aber für eine Motte ist er zugegeben eine richtige Flasche. Ein absolutes Weichei!« Sein rasselndes Lachen umwehte ihr Gesicht. »Ich habe ihm ein Stück seines Glaubens, seines Wissens, seiner Überzeugung aus dem Hirn geschrieben - aus dem Hirn oder dem Herz, woraus, überlasse ich deiner Vorstellung. Denn er liebt die Dichter. Er ist ein Dichter. Und er hasst Erasmus Collonta. Diese drei Wahrheiten seiner Person habe ich mir ausgeliehen, mit seinem Einverständnis natürlich, und mit Blut und Tinte auf das Blatt geschrieben. Gewiss wird Manthan bald wieder wohlauf sein. Schließlich ist das Wissen, das ihm genommen wurde, leicht wiederherzustellen. Was hast du mir doch am Hochzeitstag deiner Tante gesagt? Ja, richtig: Wahrheit ist Schönheit, Schönheit Wahrheit. Nur wolltest du mit deinem kleinen Mottenkopf diese Schönheit nicht aufnehmen, nicht wahr? Apolonia? Hörst du mich noch, meine Liebe?«

Langsam hob sie den Blick. Das Schwindelgefühl in ihr ebbte zurück, Stück für Stück, ganz langsam, und der Wirbel der Worte verstreute sich zu flirrenden Strudeln. Sie sah Morbus an. In diesem Augenblick war sie sich sicher, ihren Mörder anzusehen. Gewiss. Er würde sie umbringen, früher oder später. Nichts hinderte ihn und die Dichter daran, sie ihre schrecklichen Wahrheiten lesen zu lassen. Selbst wenn es stimmte, was Morbus gesagt hatte, dass sie resistent war, würde sie unter der Last längerer Texte zusammenbrechen. Oder verrückt werden. Deshalb waren seine Bücher so schön - sie manipulierten ihre Leser! Abscheu keimte in ihr auf, weil etwas so Schönes von so boshaften Menschen kommen konnte. Sie sammelte ihren Mut und ihre Kraft, um ihm ins Gesicht zu sagen: »Ich wusste, dass an ihnen was faul ist!«

»Faul!« Morbus wandte sich mit einem lautlosen Lachen an Kastor und Jacobar. Dann schnellte seine Hand vor und umschloss eine Haarsträhne von ihr, die er heftig hin- und herschwenkte. »Es sind Meisterwerke!«

Apolonia rang nach Luft, so stechend wurde der Schmerz in ihrem Hinterkopf. Dann ließ Morbus sie los und klopfte ihr auf die Backe. »Nichts für ungut, Fräulein Spiegelgold. Ich nehme deine Bemerkung als Kompliment und deute die Erwähnung meiner Bücher als Interesse daran, wie die Meisterwerke entstehen. Das erkläre ich dir gerne.« Er verschränkte die Arme auf dem Rücken und blickte zu den anderen Dichtern am Tisch zurück. Manthan war aus der Bewusstlosigkeit erwacht. Leise beschworen ihn die anderen Dichter, dass er einer von ihnen war, sie liebte und Erasmus Collonta hasste. Mit geringschätziger Miene wandte sich Morbus ab.

»Die Bücher, die ich veröffentliche, sind keine reinen Wahrheiten. Wie du soeben am eigenen Leib erfahren konntest, sind diese nämlich nicht sehr leicht zu verkraften. Man muss sie erst filtern, um sie einem breiten Publikum ohne Mottenresistenz vorsetzen zu können. In meinen publizierten Werken sind nur Auszüge der Wahren Worte, des Grundtextes. Ich träufle die Wahren Worte in das Buch hinein wie die Stimmen von Sirenen in ein sterbliches Lied. Was glaubst du, was geschähe, würde man ein Lied komponieren mit dem puren Gesang der Sirenen? Kein gewöhnlicher Mensch würde es ertragen! Und so verträgt auch kein gewöhnlicher Mensch die echten Bücher mit dem wahren Text. Alle Leser würden davon verrückt, weil sie die Geschichte nicht mehr von ihren eigenen Erinnerungen unterscheiden könnten. So mächtig sind Geschichten! So wahr können sie werden, wahrer als die Wirklichkeit... Wer von meinen Figuren liest, nimmt sie in sich auf und besitzt mit einem Mal zwei Persönlichkeiten. Du hast ja gesehen, was mit den armen Polizisten in Eck Jargo geschehen ist. Sie haben einen einzigen Satz gelesen, nur einen winzig kleinen, aber er war wahr: Du bist tot.« Morbus lächelte. »Ist das nicht wundervoll? Endlich haben wir die Wahrheit gefunden! Und wir haben sie gefangen, mit den Regeln unserer primitiven Sprache. Wir können die Wirklichkeit festhalten, eine Wirklichkeit, an die jeder, jeder Mensch in der Welt, glaubt. Nur Motten, die von Geburt an fähig sind, in die Geister anderer einzudringen, die von Geburt an fähig sind, neben ihrer eigenen Persönlichkeit beliebig viele weitere in sich zu beherbergen, können die pure Wahrheit ertragen, ohne schizophren zu werden. Deshalb, Apolonia, hat sich die kleine Wahrheit von Manthan nicht in deinen Verstand eingefügt, sondern blieb ein Fremdkörper im Wortstrom deines Bewusstseins.«

Apolonia dachte an die Polizisten und ihren schrecklichen Tod. Waren sie wirklich nur wegen eines Satzes gestorben? Jetzt, da sie selbst die drei Blutsätze hatte lesen müssen, schien es ihr absolut vorstellbar.

»Woher hatten Sie den Satz?«

»Oh, eine interessante Frage. In der Tat war es äußerst schwierig, ihn zu gewinnen. Um nicht zu sagen, es war eine kleine Meisterleistung meinerseits. Ich musste ihn gerade in dem Augenblick aufschreiben, in dem der Junge mit den aufgeschlitzten Pulsadern erkannt hat, dass er starb.«