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Apolonias Gedanken befanden sich in einem fieberhaften Taumel. Mein Gott, dachte sie. Das kann nicht sein... Eine Gänsehaut zog ihr wie eine Eiskruste über den Rücken. »Sie schließen echte Menschen in Ihre Bücher. Deshalb sind sie wahr! Die Bücher sind echt, weil in ihnen echte Menschen gefangen sind ...«

Morbus musterte sie geduldig. Dann ging er vor ihr in die Knie. Er wischte ihr eine Träne von der Wange, von der sie gar nicht gemerkt hatte, dass sie da war, und zerrieb das Wasser nachdenklich zwischen Daumen und Zeigefinger. »Menschen... was sind Menschen? Findest du es schlecht, Menschen in Bücher zu schließen, wie du es nennst?«

»Ja«, hauchte Apolonia. Sie schluckte. »Ja, natürlich, Sie Wahnsinniger!« Sie hatte es gewusst. Die Motten hatten keine Seele. Sie waren boshaft, durch und durch.

Morbus senkte den Kopf. »Weißt du, was ich wirklich schlecht finde? Wirklich böse? Selbstsucht. Und das Schlimme ist, dass wir alle ausnahmslos selbstsüchtig sind. In unseren Herzen lieben wir nur uns, und alles, was wir tun, wird von dieser Selbstliebe gelenkt - jedes noch so noble Opfer. Es mag aussehen, als wären wir den Menschen nahe, die wir lieben, aber im Augenblick der Wahrheit, im Angesicht des Todes stehen wir einsam in der Weite einer Nacht, in der uns kein Licht schimmert. Wir lieben nur uns, weil wir nur uns spüren können und nur unsere eigenen Gedanken wirklich begreifen.« Er streckte die Hand nach ihr aus. Sie fühlte seine Finger über ihre Haare streichen, sachte wie ein Luftzug. »Was verbindet uns schon mit anderen Menschen? Die flüchtige Berührung zweier Körper! Die leere Hülle der Wörter, abgehackter Laute, die das Namenlose, Ungreifbare in Form zu drücken versuchen, das in unserem Verstand und unserem Herzen verborgen liegt... Was wäre die Welt, wenn es keine Sprache gäbe, sondern nur Wahrheit! Reine, klare, unverschlüsselte Wahrheit! Wenn wir fühlen könnten - nicht hören -, was andere fühlen. Wenn wir die Liebe fühlen könnten - nicht erklärt bekämen -, die andere in sich tragen! Dann würden wir wahrlich lieben, die Liebe würde die Fesseln sprengen, mit denen das Herz in seine eigene Brust gekettet ist. Du fühlst nicht meine Traurigkeit, wenn ich dir sage, dass ich traurig bin. Trauer, Hass, Liebe, Glück, all die komplexen, faszinierenden Wirbelstürme aus Licht und Schatten, die im Wesen unserer Seelen fließen, sind nicht zu beschreiben, man kann sie nur fühlen. Könntest du fühlen, Apolonia, was ich gerade empfinde, könnte ich dir meine Gedanken schenken. Und genau das will ich. Ich will den Menschen wahres Verständnis geben! Ich will der Heuchelei ein Ende setzen, dass Worte ausreichen könnten, um jemanden zu lieben. Ich schenke den Menschen ein zweites Herz! Sie lesen meine Bücher und spüren die Seele hinter der Sprache wie ihre eigene! Sie lernen das erste Mal im Leben jemanden wirklich lieben! Sie lernen, wie ein anderer Mensch zu denken. Sie lernen, aus ihrem eigenen Ich zu schlüpfen. Welches Buch hast du von mir gelesen, Apolonia?«

Sie schluckte schwer. Am liebsten hätte sie nicht geantwortet, doch ein Teil von ihr wollte, dass Morbus weitersprach - eine morbide Neugier, die sich nicht darum scherte, wie sie später mit der Wahrheit umgehen musste. »Das Mädchen Johanna.«

»Ah, das Mädchen Johanna. Sag, hast du sie verstanden wie dich selbst? War es dieselbe süße, bittere Selbstliebe, die dein Herz für sie hat schlagen lassen, als du ihre Geschichte gelesen hast, die du bis dahin nur für dich empfinden konntest?«

Apolonia presste die Lippen zusammen, damit er nicht sah, wie sehr sie zitterten. Doch Morbus nickte zufrieden. »Meine Mottengabe ist der Segen der Menschheit. Ich stehe in der Finsternis der blinden Masse und um mich will jeder mit Worten beschreiben, wie sein Gesicht aussieht. Ich stehe dort, im Dunkeln, und trage eine Laterne mit mir. Ich bringe der Menschheit das Licht, auf dass kein Wort mehr gebrüllt, kein Laut mehr geächzt werden muss, um das zu erklären, was man nicht beschreiben, nur erleben kann! Gefühle! Gefühle, die sich in keine Worte zwingen lassen!

Menschen verlieren ihre Vergangenheit für meine Bücher, ja. Das stimmt. Aber werden sie nicht tausendfach entlohnt? Ihre Geschichten sind eingesperrt im Dunkel ihrer Schädel, wo niemand sie je erleben kann, bis ich sie hervorbringe! Bis ich sie herausschreibe... Und was geschieht dann! Ihre Geschichten zerspringen in Millionen Funken und lassen sich in jedem Herzen nieder, das auf dieser Erde schlägt! Auch du, Apolonia, trägst einen Funken von dem Mädchen Johanna in dir. Kein Mensch war dir je so nahe wie sie, eine Buchfigur! Sie wurde geopfert, damit das Ich von Hunderten, von Tausenden wächst! Und auch dein Herz ist durch ihre Opferung größer geworden, denn du hast das erste Mal in deinem Leben einen anderen Menschen wahrhaftig geliebt.« Eine Ader pochte an seiner Stirn. Er lächelte und seine erschreckenden Augen schimmerten vor Tränen.

»Sie sind verrückt«, flüsterte Apolonia.

Er blinzelte. »Ich bin verrückt? Das wagst du zu sagen, zu mir, dem Einzigen, der unter all den selbstsüchtigen Menschen nicht selbstsüchtig ist?«

»Sie tun es nicht aus Nächstenliebe! Sie tun es, weil Sie aus tiefstem Herzen böse sind, und Ihre Bosheit gebietet Ihnen, andere Menschen in Ihre Bücher zu schließen! Mehr - mehr ist es nicht.«

»Einzelne müssen geopfert werden, damit die Masse profitiert. Im Leben ist nichts umsonst. Aber manchmal wiegt das Ergebnis mehr als die Entbehrung. Ich will nur die Welt gerechter machen. Tausende Menschen können sich dank meiner an den Erinnerungen erfreuen, die ohne meine Bücher nur einem Einzigen gehört hätten. Das ist die Mission der Dichter. Der Menschheit, die in der Finsternis durcheinanderbrüllt und sich doch nie versteht, das Licht zu bringen. Den Menschen die Gesichter der anderen zu zeigen. Wir geben ihnen eine Laterne in die Hand.«

Apolonia schüttelte verwirrt den Kopf. Alles, was er sagte, war so verwirrend. Sie wusste nicht mehr, ob er böse oder gut oder beides und verrückt war. »Wozu brauchen Sie dann mich?«

Morbus sah sie an. Das Grün seiner Augen durchdrang sie, schlüpfte durch jeden Gedanken, jedes Geheimnis ihres Verstandes. Sosehr sie auch versuchte, es zu verhindern, sie schaffte es nicht. Er hatte eine Verbindung zu ihr erzwungen, die keiner Worte bedurfte.

»Du, Apolonia, musst begreifen, dass die Wahrheit wichtiger ist als jeder Einzelne von uns. Du musst einsehen, dass du eine Gabe hast, die du nicht leugnen kannst. Du musst eine von uns werden.«

Hilfe

Ich muss verrückt sein, dass ich das hier tue, dachte Tigwid, während er ein Stückchen von dem Brot abzupfte und der Taube hinhielt. Die Taube plusterte sich auf und legte den grauen Kopf schief. Dann schnellte sie vor und schnappte sich das Brot aus Tigwids Fingern. Mit einem zufriedenen Flügelflattern hüpfte sie ein paar Schritte von ihm weg. Tigwid näherte sich ihr in der Hocke und riss noch ein Brotstück ab.

Das Brot hatten sie mit dem Geld gekauft, das in der Tasche des Mantels gewesen war, den Vampa geklaut hatte. Tigwid war nie ein Dieb wie Vampa untergekommen. Er war schnurstracks auf einen Mann zugegangen und hatte ihm einen Kinnhaken verpasst, ohne seine beiden erschrockenen Begleiterinnen auch nur anzusehen. Während eine von ihnen in Ohnmacht fiel und die Zweite sie auffing, hatte Vampa den bewusstlosen Mann aus seinem Mantel gepellt und war mit der Beute davongestapft. Nun stand er hinter Tigwid, halb versunken in dem zu großen Kleidungsstück, unter dem er nur eine Hose trug, und beobachtete die Taube so gebannt, als erläutere sie ihnen den Sinn des Lebens. Tatsächlich pickte sie bloß Läuse aus ihren Brustfedern.