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Die Königin, die auf der Weltkugel tanzt.

»Was?« Tigwid runzelte die Stirn. Dann strahlte er. Ganz klar, nur Apolonia konnte so größenwahnsinnig sein, sich so bei den Tieren vorzustellen! Sie war es bestimmt!

Die Taube breitete die Flügel aus und stieß sich vom Ast ab. In einem steilen Segelflug überquerte sie die zugeschneite Straße.

»Hinterher!«, rief Tigwid, fand für das Brot in aller Hast keinen anderen Platz als im hinteren Hosenbund und rannte los. Vampa folgte ihm mit wehendem Mantel.

Morbus legte seinen Mantel ab. Seelenruhig strich er sich einen Fussel von der Seidenweste und setzte sich mit überschlagenen Beinen auf den Stuhl, den Jacobar ihm gebracht hatte. Dann lächelte er Apolonia an. Kastor, der blonde Dichter, erhob sich ächzend und trat zur Seite, als er ihr den fehlenden Schuh angezogen hatte.

»Ist deinen Füßen jetzt wärmer?«, erkundigte Morbus sich und lächelte unbewegt. »Wir haben dir eine Decke über die Schultern gelegt, ein Glas Wasser gebracht, Jacobar hat dir sogar die Schulter gekratzt, und hier hast du deinen Schuh wieder. Ich erwarte eine Antwort, Apolonia.«

Apolonia versuchte, trotz der aussichtslosen Situation ein beherrschtes Gesicht aufzusetzen. Ihr war klar, dass die Dichter sie in ihrer Gewalt hatten und sie zu allem zwingen konnten - aber solange sie die Chance hatte, würde Apolonia es ihnen so schwer machen wie möglich. »Vielleicht würde mir das Nachdenken leichter fallen, wenn ich bequemer sitzen würde. Ich bin Holzmöbel nicht gewohnt, aber ein ganz alltägliches Kissen würde mir genügen.« Sie rutschte auf ihrem Stuhl hin und her und beschloss, damit aufzuhören, als Morbus’ Lächeln festfror.

»Reizende Apolonia ... ich werde das Gefühl nicht los, dass du mich nicht leiden kannst. Und absichtlich meine kostbare Zeit vergeudest! Ein kleines Wort, meine Liebe: Schließt du dich uns Dichtern an, ja oder nein?«

Apolonia sagte nichts. Diese Genugtuung wollte sie ihm nicht verschaffen - noch nicht. Früher oder später würde er sowieso kriegen, was er wollte. Sie machte sich keine falschen Hoffnungen: Sie war an einen Stuhl gefesselt, hatte mehr als vierundzwanzig Stunden nichts mehr gegessen und eine Gehirnerschütterung und den Schock der Blutsätze erlitten. Außerdem wusste niemand, wo sie war oder dass die Dichter überhaupt existierten - abgesehen von Tigwid natürlich. Der saß wahrscheinlich gerade in einer Gefängniszelle und heckte einen Mordplan gegen sie aus. Niemand würde ihr helfen. Apolonia wusste das genauso gut wie Morbus.

»Du bist doch so wissbegierig«, fuhr er leise fort. »Bedenke, dass wir dir alle Geheimnisse verraten können, alles, was du schon immer über die Motten wissen wolltest. Ganz zu schweigen von den Geheimnissen all der anderen Menschen ... Du könntest dir das Innere von jedem aneignen, ganz wie es dir beliebt. Was sagst du dazu?«

»Es ist verlockend«, sagte Apolonia langsam. »Ich weiß allerdings immer noch nicht, wieso Sie ausgerechnet mir dieses großzügige Angebot machen - und dabei die Hände fesseln!«

»Tu nicht so, als wärst du dir deiner Talente nicht bewusst. Ich habe dich am Hochzeitstag deiner Tante erlebt und deine - ich möchte fast sagen, an Hochmut grenzende - Selbstsicherheit war nicht zu übersehen. Nimm es mir nicht übel - wenn es jemanden gibt, der eine gute Portion Selbstbewusstsein zu schätzen weiß, bin das gewiss ich.« Er lächelte. »Hast du nicht immer schon deine Überlegenheit gespürt? War es nicht ebendieses Wissen, aus dem sich dein bemerkenswerter Stolz speist? Du weißt es, Apolonia, du weißt, dass du anders bist, besser, strahlender ... weil du eine Motte bist.«

»Ich bin keine Motte!«, erwiderte sie energisch. Dann kniff sie die Lippen zusammen und schnappte: »Stellen Sie sich vor, auch ohne übersinnliche Gaben ist ein ausgeprägter Intellekt möglich.« Sie spürte, dass Morbus dabei war, die Beherrschung zu verlieren. Die Ader an seiner Stirn pochte bedrohlich.

»Wie recht du hast. Aber ich muss dich enttäuschen: In deinem Fall liegt jegliche Genialität allein an deiner Mottengabe.«

An diesem Punkt entschied Apolonia, sich nicht mehr verwirren zu lassen - jemand, der so etwas behauptete, konnte nur ihr Feind sein. »Wie kommen Sie zu dieser ungeheuerlichen Unterstellung! Ich habe keine verdammten Gaben, ich bin keine Motte, ich hasse Motten, ich hasse alle Motten!« Sie zitterte. Nach dieser kurzen Explosion durchsickerten sie Verzweiflung und Angst und das jähe Bedürfnis zu weinen. Aber sie hielt die Tränen eisern zurück, weil Morbus nur darauf zu warten schien, dass sie vor Furcht zusammenbrach.

»Interessant«, sagte er. »Die Leidenschaft hast du nicht von Magdalena.«

Apolonia biss sich beim Namen ihrer Mutter auf die Lippe. »Wie wagen Sie es, ihren Namen auszusprechen. Wie wagen Sie es, Sie - Sie Mörder -« Er hatte damals Magdalenas Geist zurückgehalten, sodass sie nicht mehr zurückkehren konnte ... er war der Mörder ihrer Mutter. Und sie war ihm hilflos ausgeliefert.

»O nein, Magdalena ist in keinem Buch gefangen. Apolonia. Sieh mich an. Würde ich dich bitten, mein Lehrling zu werden, wenn ich deine Mutter auf dem Gewissen hätte?«

Apolonia schniefte. »Es waren Motten, die meine Mutter getötet haben!«

»Hasst du die Motten deshalb? Aber deine Mutter war selbst eine Motte. Magdalena war eine Motte und sie war eine Anhängerin der Dichter.«

Apolonia starrte ihn an.

»Deine Mutter hätte gewollt, dass du in ihre Fußstapfen trittst. Schließe dich uns an. Und du wirst Dinge lernen und erfahren, von denen du nicht zu träumen gewagt hättest. Wir brauchen dich, Apolonia... im Namen deiner Mutter, vollende das Werk, das Magdalena begonnen hat: Schreibe mit uns die Wahrheit in Bücher. Werde mein Lehrling, und ich zeige dir eine Welt voll Schönheit, wie du sie nirgendwo sonst finden wirst, in keiner anderen Kunst und keiner noch so großen Liebe!«

Sie wusste nicht mehr, was sie denken und fühlen sollte. Wer war Morbus nur? In einem Augenblick schien er vollkommen verrückt und boshaft und dann wieder so ... ehrlich. Was, wenn er recht hatte? Wenn ihre Mutter wirklich eine Dichterin gewesen war? Aber wer, wenn nicht die Dichter, hatte sie dann umgebracht?

Nein, nein, Morbus war wahnsinnig, und als ihre Mutter das Geheimnis seiner Bücher aufdecken wollte, hatte er sie beseitigt!

»Ich glaube Ihnen nicht.«

Morbus presste seine Hand gegen die Nasenwurzel. »Du lässt mir keine andere Wahl! Jacobar ... hole mein Werkzeug.«

Der Dichter lief los, während Morbus sich bedächtig die Ärmel hochkrempelte. »Weißt du ... wir können es uns leider nicht leisten, dich wegen persönlicher Schicksalsschläge aufzugeben. Ein Jammer, dass ausgerechnet die Erinnerung an deine Mutter dich Motten hassen lässt. Wir brauchen dich und deine Gabe. Mit oder ohne die Erinnerung an Magdalena.«

Apolonia wandte erschrocken den Kopf, als sie hörte, wie die Dichter sich hinter ihr aufstellten. Jacobar reichte Morbus ein Skalpell. Ein anderer schob ihr den Ärmel hoch.

»Was tun Sie?!« Sie versuchte, den Dichter abzuschütteln, aber sie bewirkte bloß, dass ihr die vergilbte Decke von den Schultern glitt. Morbus setzte das Skalpell an ihren Oberarm.

»Keine Angst, Apolonia. Es tut nur ganz kurz weh. Und später«, die Klinge grub sich in ihre Haut, »wirst du dich an keinen Schmerz erinnern.«

Sie schrie. Die Dichter hielten sie fest, das kalte Metall drang durch ihre Haut. Warm lief es ihr den Arm hinab. Tränen flossen ihr übers Gesicht, als ein Dichter ein Schälchen unter den Schnitt hielt und das Blut auffing. Vor Grauen zitterten ihre Knie. Ihre Mutter, die Erinnerungen an ihre Mutter - die konnten sie ihr nicht nehmen, das war unmöglich! Tausend Bilder schossen ihr in den Sinn, Magdalenas Lächeln, die Riten im Salon, der weiße, reglose Körper, den der Geist für immer verlassen hatte ...