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Apolonia schlug mit der Faust auf den Tisch. »Wissen Sie nicht, wer ich bin! Ich wurde entführt, die Polizei ist verpflichtet, mir zu helfen!«

Der Beamte legte die Hände auf die Armlehnen und betrachtete sie mit verächtlicher Genugtuung. »Solange Sie Ihre Geschichte nicht mit Beweisen untermauern können, sehe ich mich nur meinem Verstand verpflichtet.«

»Beweise?«, schrie Apolonia. »Sehen Sie mich an! Glauben Sie, ich komme gerade vom Gottesdienst?« Sie schob den Ärmel zurück und zeigte ihm den blutigen Schnitt an der Innenseite ihres Oberarms. »Denken Sie, das habe ich selbst gemacht?«

Der Beamte lehnte sich vor, um ein paar säuberlich gespitzte Bleistifte nebeneinander zu ordnen. »Ich denke so einiges, Fräulein Spiegelgold, was aber nichts an den Fakten ändern wird. Die Polizei schreitet ein, wenn es handfeste Beweise für einen Gesetzesbruch gibt.«

»Ich habe eine Zeugenaussage gemacht, die genau das bestätigt!« Apolonia konnte es nicht fassen. Die Gerechtigkeit war drauf und dran, an einer kleinlichen Büromaus zu scheitern!

»Ohne Ihnen nahetreten zu wollen: Ich erachte Ihre Aussage nicht als glaubwürdig. Zauberer und verhexte Bücher, in denen Erinnerungen gefangen sind oder Menschen oder was sonst ... Ich bitte Sie.« Der Beamte erhob sich, ging durchs Zimmer und öffnete die Tür. »Ich wünsche Ihnen einen guten Tag.«

Apolonia konnte sich einen Augenblick lang nicht rühren. Dann erhob sie sich und drehte sich mit funkelndem Blick zu dem Beamten um. »Für Ihre anmaßende Impertinenz werden Sie vor Gericht stehen, das verspreche ich!« Damit riss sie ihm die Türklinke aus der Hand und knallte die Tür so laut zu, dass es schallte.

Eine Weile stand sie nur da, fassungslos über das, was geschehen - oder nicht geschehen war. Sie fühlte sich so allein ... Aber nein - so leicht gab sie nicht auf! Sie brauchte einen Beweis? Dann würde sie einen Beweis beschaffen. Sie würde es ihnen allen zeigen, den Dichtern, der Polizei, der ganzen Welt, wenn es sein musste, und am Ende würde sie triumphieren!

»Die werden noch staunen«, knurrte Apolonia, als sie losging. Festen Schrittes verließ sie den Korridor, lief die Treppen hinunter, durch den Empfangssaal und an den dichten Trauben der Fotografen vorbei. Gerade wurde ein berühmter Verbrecher in Handschellen abgeführt. Apolonia bahnte sich mit Ellbogen einen Weg durch die Menge und setzte ein grimmiges Gesicht in den Hintergrund der Fotos.

Ein Lastzug rauschte in der Nähe vorüber und ein paar erschrockene Tauben flatterten aus den kaputten Fenstern. Ansonsten ließ sich kein Tier blicken. Die Lagerhalle lag still und verlassen da.

Apolonia öffnete vorsichtig die Hintertür. Die rostige Feuertreppe war im spärlichen Licht, das hoch oben durch die Fenster fiel, kaum auszumachen. Sie hob ein altes Holzbrett mit verbogenen Nägeln vom Boden auf und schlich, so bewaffnet, die Stufen empor.

In der Halle war niemand mehr. Die Glasscherben der Dachfenster übersäten den Boden und ein paar Kisten waren umgestoßen. Irgendwo trappelte eine Ratte durch die Unordnung und sandte Apolonia einen knappen Gruß.

Sie ließ das Brett sinken.

Die Dichter waren weg. Sie wusste nicht, ob sie das erleichterte oder besorgte.

Langsam durchschritt sie die Halle. Sie blickte in Kisten voller Papierrollen und unter verstaubte Planen, unter denen gewaltige schwarze Maschinen schlummerten. Nirgendwo ein Hinweis auf die Dichter.

Der Stuhl war noch da, auf dem Apolonia gesessen hatte, und auch die zernagten Fesseln. Apolonia hob sie auf und erwog eine Weile, ob sie als Beweis zählen würden ...

Schließlich schnaubte sie und warf die Fesseln wieder auf den Boden. Was sie brauchte, war ein echter Beweis, keine faden Puzzlestücke. Seufzend ließ Apolonia die Schultern hängen. Sie fühlte sich erschöpft, war hungrig und müde. Trotzdem zweifelte sie keine Sekunde daran, dass es richtig war, noch einmal zurückgekommen zu sein. Vielleicht war es gefährlich - aber richtig. Schließlich ging es um ihre persönliche Rache an Morbus und den Dichtern. Und um Gerechtigkeit. Die Gerechtigkeit, die sie ihrer Mutter und ihrem Vater schuldete.

Sie entdeckte eine schmale Metalltreppe, die in ein Büro führte, von dem aus man die ganze Halle überblicken konnte. Wahrscheinlich hatte von hier aus der Fabrikbesitzer das Treiben seiner Arbeiter überwacht. Sie erklomm die Stufen und bekam die Bürotür nach einem kurzen, verbissenen Kampf mit dem Schloss auf. Durch ein eingeschlagenes Fenster wehten Schneekörner und überzogen den breiten Schreibtisch und die Bodendielen mit einem glitzernden Teppich. Fröstelnd trat Apolonia näher. Ein eisiger Windhauch wirbelte ihr gegen den Mantel. Sie lehnte ihr Holzbrett an die Wand und strich den Schnee vom Schreibtisch. Feuchte alte Bücher kamen zum Vorschein. Und eine Pistole. Mit klammen Fingern nahm sie die Schusswaffe in die Hand. In geschwungener Schrift waren die Initialen J. M. in den Griff eingraviert: Jonathan Morbus. Wenigstens konnte sie jetzt beweisen, dass er existierte. Apolonia schloss beide Hände um die Pistole. Ihr Zeigefinger legte sich auf den Abzug. Ob sie geladen war?

Plötzlich knarrte die Tür.

»Apol-!«

Sie fuhr herum und drückte vor Schreck den Abzug - was die Frage, ob die Pistole geladen war, beantwortete. Eine Kugel fegte quer durch das Büro und riss ein Loch in die gegenüberliegende Holzwand, genau unter Tigwids ausgestrecktem Arm.

Langsam drehte er den Kopf zurück und starrte das Loch in der Wand an. Ein Rauchwölkchen drang hervor.

»O Gott.« Apolonia ließ die Pistole fallen. »Tigwid!« Sie lief auf ihn zu und blieb kurz vor ihm stehen. Erst jetzt entdeckte sie einen Jungen an der Tür, der sie aus dunklen Augen ansah. Erschrocken trat Apolonia zurück, bis sie gegen den Schreibtisch stieß. Der Fremde hatte etwas an sich, das ihr eine Gänsehaut bereitete ... seine Augen wirkten wie eingesetzte Glasscherben. »Was machst du hier?«, fragte sie Tigwid misstrauisch. Der Verdacht, er wollte sich an ihr rächen, brodelte unheilvoll in ihr hoch. Unbemerkt tastete sie nach ihrem Nagelbrett... Zugegeben war das keine großartige Verteidigung gegen zwei Gegner, die größer als sie und wahrscheinlich auch kampferprobter waren, aber besser als nichts.

Tigwid starrte sie an, als sei ihm gerade furchtbar übel geworden. »Ich wollte dich retten«, sagte er mit piepsiger Stimme.

»Oh ... Wieso?«

Tigwid räusperte sich schwer. »Tja. Sieht so aus, als ging’s dir ganz gut.«

»Wie hast du mich gefunden?« Apolonia merkte, wie sich der fremde Junge hinter Tigwid schlich, ohne sie aus den Augen zu lassen.

»Wir sind - sozusagen - eigentlich zufällig vorbeigekommen.«

Der widerwillig sorgenvolle, enttäuschte Ausdruck in Tigwids Gesicht strafte seine abweisende Haltung Lügen. Apolonia fühlte sich um gut dreihundert Pfund schwerer, als sie ihm in die karamellbraunen Augen sah und begriff, dass er trotz ihres Verrats nach ihr gesucht hatte. Schuldgefühle nagten an ihr. Wie grässlich!

»Tigwid, es tut mir ... leid. Das mit Eck Jargo.« Ihre Stimme war plötzlich heiser, die Worte kosteten sie Mühe. »Nun. Gott sei Dank konntest du fliehen.«

Er steckte die Hände in die Hosentaschen und warf einen Blick aus dem Fenster. »Tut mir auch leid, dass ich dich mit den Dichtern allein gelassen habe.«

»Wirklich?«, fragte Apolonia langsam.

»Nein. Eigentlich ist alles deine Schuld.« Er lächelte zögernd. »Wo du mich so dran erinnerst, weißt du, könnte ich dir glatt eine runterhauen.«

Apolonia lächelte. Da - WUMM - traf sie eine Ohrfeige, und ihr Kopf flog so heftig zur Seite, dass ihr die Luft wegblieb.