Aber Apolonia wusste, dass ihn nicht nur der Schock in den Wahnsinn getrieben hatte. Nein. Hier waren noch andere Mächte im Spiel.
Sie wischte sich mürrisch eine nasse Haarsträhne aus dem Gesicht und begann, nach ihrem Vater zu suchen. Das Haus ihres Onkels war groß, es gab vier Stockwerke und mehr als zwanzig Zimmer. Bittere Tränen stiegen in ihre Augen, als sie in die Richtung aufbrach, in die ihr Vater gehüpft war.
»Vater«, rief sie streng. »Vater! Komm raus!«
Sie ballte die Hand zur Faust. Die, die ihr das alles angetan hatten, würden bezahlen.
Inspektor Bassar
Möchten Sie noch ein Stück Zucker in Ihren Tee, Herr Inspektor?« Das dunkelhaarige Mädchen nahm eine goldene Zuckerzange, hob einen Würfel aus der Porzellandose und ließ ihn in Bassars Tasse fallen. Der Zucker schlug mit einem zarten Klirren gegen den Boden der zierlichen Tasse und es war für einen Moment das einzige Geräusch. Dann war eine weitere Minute verstrichen und die große Wanduhr gab ein Ticken von sich.
»Danke«, sagte Bassar und führte die dampfende Tasse an die Lippen. Er fühlte sich, als würde er aus Puppengeschirr trinken.
»Verflucht.« Heißer Tee tröpfelte ihm auf den Schoß. Hastig stellte er die Tasse ab. »Ich meine, Verzeihung.«
Das Mädchen zeigte keine Regung. Ihr Vater hingegen lachte quietschend auf. Bassar war nicht sicher, wer von beiden ihn mehr beunruhigte.
»Wir ... mein Vater und ich, wir freuen uns sehr über Ihren Besuch, Herr Inspektor«, begann das Mädchen. Trotz ihres sachlichen Tons bot sie einen kummervollen Anblick, wie sie so in ihrem schwarzen Trauerkleid dasaß, die Hände gefaltet und die schmalen Schultern gestrafft. Gleichzeitig zeugten ihre Augen von kühler Autorität. »Ich vermute, dass Neuigkeiten über den Brand Sie veranlasst haben, uns zu besuchen. Was können Sie uns also sagen? Haben Sie den Täter, den Brandstifter?«
Bassars Blick irrte zu Alois Spiegelgold hinüber, der ein imaginäres Wesen auf seiner Schulter streichelte. Nach kurzer Überlegung richtete der Inspektor sich an das Mädchen. Was er jetzt sagen musste, würde schwierig werden. »Fräulein Spiegelgold, es gab keinen Brandstifter. Jedenfalls ... keinen von außerhalb.«
Das Mädchen schwieg. Bassar fiel auf, wie sie die Finger in die Handflächen grub, doch ihr Gesichtsausdruck veränderte sich nicht.
Verflucht. Bassar hasste es, den Überbringer schlechter Nachrichten zu spielen. Hätte er früher, als junger Mann, gewusst, dass die Aufgabe eines Inspektors zum Großteil aus solchen Botengängen bestand! Vielleicht hätte er eine andere Laufbahn eingeschlagen.
Er zog ein Protokoll aus seiner Manteltasche, damit das Mädchen sehen konnte, dass er nur das sagte, was er sagen musste. »Der Brand ist im Lagerraum ausgebrochen. Die neuen Buchlieferungen, nach Ihren Angaben am Vorabend eingetroffen, fingen zuerst Feuer. Danach ...« Er tat, als suche er im Protokoll, obwohl er die Geschichte auswendig kannte. »Danach breiteten sich die Flammen in die Regale aus, erreichten den ersten Stock und bald darauf den zweiten. Noch ungeklärt ist, wie das Feuer entstand. Aber Sie haben ausgesagt, dass sich nur Ihr Vater in den Lagerräumen aufhielt.«
»Es war zwei Uhr morgens«, sagte das Mädchen. »Ich weiß nicht, wer sonst im Geschäft hätte sein können. Sie haben gesagt, dass die Türen nicht aufgebrochen worden sind. Also ist jemand mit einem Schlüssel hineingekommen.«
»Sie haben Ihren Vater am nächsten Morgen in den Trümmern gefunden, richtig?«
Das Mädchen nickte. Bassar nickte ebenfalls. Merkte sie denn nicht, worauf er hinauswollte?
Er atmete tief ein und räusperte sich, um seiner Stimme einen geprüfteren Ton zu verleihen. »Fräulein Spiegelgold, Sie müssen verstehen, dass ich auf der Suche nach Antworten bin. Ist Ihnen eventuell ... schon früher aufgefallen, dass Ihr Vater Anzeichen von seinem jetzigen ... Gemütszustand zeigte?«
Die Augen des Mädchens wurden schmal. »Wie darf ich Sie verstehen, Herr Inspektor?«
Himmel, die Kleine wollte doch sonst immer so schnell begreifen. »Bei der Suche nach dem Täter können wir Ihren Vater nicht außer Acht lassen. Wenn er der Einzige im Geschäft war, als das Feuer ausbrach, müssen wir davon ausgehen, dass ... Womöglich war er schon damals, das heißt, vor ...«
»Mein Vater war bei gesundem Verstand, bevor es passiert ist!«
»Was meinen Sie?«, fragte Bassar vorsichtig.
Das Mädchen schwieg eine Weile verbissen. Dann machte sie den Mund auf und schnappte: »Ich weiß, wer dahintersteckt! Ich weiß, wer uns das angetan hat, den Brand gelegt, das Geschäft zerstört hat! Die gleichen Leute, die meine Mutter ermordet haben.«
»Ihre - aber Ihr Onkel sagte, Ihre Mutter sei an Herzversagen ...«
»Es war Mord.«
»Mord ... Augenblick, das muss ich notieren. Einen Augenblick, bitte.«
Eilig zog Bassar einen Schreibblock und seinen Füllfederhalter hervor. Es steckte also doch mehr hinter dem Fall, als er gedacht hatte. Mord, Grundgütiger! »Also gut. Fangen Sie an, wenn Sie so weit sind.«
Das Mädchen nahm einen Schluck Tee und ließ den Blick eine Weile durch den schmucken Salon schweifen. Die Wände waren mit dunklem Holz und Seidentapete verkleidet, und der Kamin sah so geleckt aus, als hätte nie ein Feuer darin gebrannt. Gegenüber von ihnen hing das Portrait eines alten Mannes mit einer Hakennase, der griesgrämig auf Bassar herabstarrte.
»Die Leute, die meine Mutter ermordet und das Geschäft meines Vaters in Schutt und Asche gelegt haben, sind keine gewöhnlichen Verbrecher. Es ist eine geheime Organisation von Menschen, die man nicht als Menschen betrachten darf - sonst würde man sie unterschätzen. Ich als Mitglied der privilegierten Gesellschaftsklasse nenne sie Revolutionäre der schlimmsten Art. Revolutionäre gegen Moral, Anstand, Sittlichkeit und vor allem jegliche Rationalität, wie sie unserem neuen Zeitalter entspricht. Dem niedrigen Volk sind sie jedoch auch bekannt als Motten.«
Bassar hielt inne und blickte auf. Das Mädchen schien vollkommen ernst. »Was für - Motten?«
»Es gibt nur eine Sorte von menschlichen Motten.«
»Sie meinen ...« Allein es auszusprechen, war absurd. Bassar runzelte die Stirn. »Sie sprechen von Zauberern?«
»Sie sind keine Zauberer. Sie sind gefährliche Terroristen und - eine Bedrohung für das Reich.«
Was sollte er davon halten? Die Schauermärchen der alten Bettelweiber auf den Marktplätzen trugen also Schuld am Brand bei Buchhandel Spiegelgold! Einen Moment beäugte Bassar das Mädchen eingehend und fragte sich, ob es vielleicht auch wie der Vater ... Aber nein. Sie war ein Kind. Kinder konnten eine unglaubliche Fantasie entwickeln, wenn es darum ging, die Ehre ihrer Eltern zu wahren. Ob es bei Alois Spiegelgold noch eine Ehre zu wahren gab, darüber ließ sich natürlich streiten.
Und zwar ein anderes Mal. Bassar beschloss, den Besuch zu beenden, bevor ihm noch mehr Verrücktheiten aufgetischt wurden. »Fräulein Spiegelgold, ich denke, das reicht vorerst.« Er nahm seine Melone vom Sofa und streckte ihr die Hand entgegen. »Ich danke Ihnen für den herzlichen Empfang. Sie werden von mir hören.«
Das Mädchen sah ihn nicht an. Ihr Gesicht war versteinert, und die Hand, die sie ihm zum Abschied reichte, fühlte sich schlaff an.
»Herr Spiegelgold.« Er beschränkte sich darauf, dem Vater nur zuzunicken, da er das imaginäre Wesen auf seiner Schulter eingehend kraulte. Das Mädchen blickte noch immer zu Boden. Aber Bassar glaubte, Tränen in ihren Augen zu sehen. Er räusperte sich nochmals und setzte den Hut auf. »Kopf hoch. Alles wird wieder gut. Die Polizei ist Ihr Freund.« Das war mit Abstand das Dümmste, was er seit Langem gesagt hatte. Dasselbe schien das Mädchen zu denken.