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»VAMPA!« Tigwid fuhr verzweifelt herum, ohrfeigte Vampa und packte Apolonia an den Armen. »Alles in Ordnung?«

Sie ließ sich blinzend wieder von ihm aufrichten und berührte ihre brennende Wange. Die Haut fühlte sich an wie gespanntes Papier.

Tigwid drehte sich zu Vampa um. »Sag mal, hast du sie noch alle?! Wofür war das denn?«

»Du wolltest ihr doch eine runterhauen«, sagte Vampa leise.

Tigwid starrte ihn fassungslos an. »Sie ist ein Mädchen! Du bist ein verdammter Boxer! Du kannst sie doch nicht - ich hab das doch nicht ernst gemeint!«

»Wieso hast du es dann gesagt?«

»Was geht dich das an? Warum hab ich eigentlich das komische Gefühl, dass du mich die ganze Zeit nachmachst?« Einen Moment lang wartete Tigwid auf eine Antwort, aber als keine kam, wandte er sich wieder Apolonia zu. »Geht es?«

Apolonia wehrte seine Hilfe ab und strich sich die Haare zurück. »Stell dich nicht an, Tigwid, es ist nur eine Ohrfeige. Ja. Und was die Tatsache betrifft, dass ich ein Mädchen bin, so ist meine Backe doch nicht verletzlicher als die von einem Jungen, oder?«

Tigwid biss sich lächelnd auf die Unterlippe. »Falls du dich trotzdem bei ihm revanchieren willst, lass deiner Wut freien Lauf. Ehrlich, du brauchst nicht zimperlich mit ihm sein, hau rein! Er ist nämlich unsterblich.«

Die drei hatten sich auf dem Ledersofa niedergelassen, das in einer Ecke des Büros stand und vom Schnee fast unberührt geblieben war. Apolonia erzählte, was sie über die Dichter erfahren hatte, wie ihr ihre Befreiung geglückt war und wie halsstarrig die Polizei sich verhalten hatte. Dann berichtete Tigwid, wie Vampa ihm bei seiner Flucht geholfen und von seinem Blutbuch erzählt hatte. Apolonia hörte ihm aufmerksam und ohne Mitleid zu, was Tigwid sehr tröstend fand. Genau ihre Sachlichkeit brauchte er jetzt, um nicht bekümmert zu werden. Oder verrückt vor Zorn.

Nur Vampa machte während der ganzen Zeit den Mund nicht auf, sondern starrte nur Apolonia und manchmal Tigwid an. Apolonia hatte ihm die Ohrfeige verziehen, oder besser gesagt, sie erachtete den Zwischenfall angesichts ihrer eigentlichen Sorgen nicht als wichtig genug, um wütend zu sein.

»Du kannst also nicht sterben«, stellte sie bloß fest, und Vampa nickte langsam. »Die Dichter vermögen also nicht nur Erinnerungen in ihre Bücher zu schließen, sondern ganze Menschen. Ein ganzes Leben ...«

Als sie zu Ende erzählt hatten, stand Apolonia auf, strich sich ihren Mantel glatt und verschränkte die Arme hinter dem Rücken. »Also, meine Herren: Folgt mir. Wir holen jetzt das Blutbuch von Tigwid und gehen zur Polizei. Einen besseren Beweis als das Buch könnten wir gar nicht finden. Und wenn wir Glück haben«, setzte sie leise hinzu, »verliert ein ganz besonderer Polizeibeamter sein bisschen Verstand, wenn er es liest.«

»Nein«, sagte Tigwid entschieden.

Apolonia senkte die Arme. »Was soll das heißen? Wieso nicht?«

»In dem Buch steht meine Vergangenheit! Und die war nicht immer ganz ordnungsgemäß, wenn du verstehst. Ich kann nicht zur Polizei, unmöglich.«

»Tigwid, hier geht es nicht um ein paar gestohlene Äpfel. Wir können die Dichter zu Fall bringen.« Sie presste die Lippen aufeinander. »Also schön. Wenn dir wegen des Buchs Ärger beschert wird, dann verspreche ich, dass ich dir den besten Anwalt bezahle, den ich finde, und Geld spielt keine Rolle.«

Tigwid fuhr sich durch die Haare. »Es sind mehr als nur gestohlene Äpfel, Apolonia. Wenn die Polizei durch mich etwas von Mone Flamm erfährt, bin ich innerhalb der nächsten zwanzig Stunden von Kugeln durchsiebt. Mein Boss ist da nicht zimperlich.«

Apolonia musterte ihn ungeduldig. Warum musste das einzige Buch, das sie hatten, ausgerechnet Tigwids Missetaten beinhalten! Aber schließlich war sie kaum in der Position, um ihm böse zu sein. Im Stillen fragte sie sich, ob sie ihm vergeben hätte, wäre sie an seiner Stelle gewesen und er hätte Eck Jargo verraten ... wenn sie darüber nachdachte, konnte sie sein Verhalten kaum nachvollziehen. Doch im Augenblick gab es Wichtigeres: ihr Elend zum Beispiel.

Geschlagen ließ sie sich wieder auf das Sofa fallen. »Na fein, hast du also einen besseren Vorschlag?«

»Also ...«

Sie zog die Knie an den Körper und schlang die Arme um ihre Beine, als sie plötzlich etwas unter sich fühlte. Sie drehte sich um und zog ein dünnes Buch zwischen den Sofakissen hervor. Es war ein kleines Notizbuch. Unlesbares Gekrakel füllte die Seiten, nur ein kleines Gedicht war fein säuberlich aufgeschrieben.

»Was steht da?«, fragte Tigwid interessiert, dem der Themenwechsel gerade recht kam. Apolonia las vor:

»Auf Erden wandeln alle blind,

geeint durchs Wort - welch loser Bund!

Verschweigt es doch, wer Menschen sind...

Hätte ich nur ein Licht im Mund!«

Sie las es noch einmal durch. »Das klingt nach den Dichtern«, murmelte sie. »Und eigentlich... ist es gar nicht so verfehlt. Wenn man darüber hinwegsieht, was die Dichter im Namen dieser Idee alles tun, könnte man glatt zustimmen.«

Tigwid blickte nachdenklich aus dem Fenster. Eine Weile schwieg er. »Glaubst du daran?«

»Woran?«

»Na, an das, was da steht. Glaubst du, dass wir blind sind? Dass unsere Worte nie ausreichen, um den anderen wirklich zu kennen?«

Apolonia sah ihn verwundert an. »Du hast das Gedicht ja verstanden.«

»Nur weil ich nicht lesen kann, bin ich nicht dumm.«

»Ich wollte dich nicht beleidigen«, sagte Apolonia. »Eigentlich bin ich überrascht, dass du... na ja. Ich glaube, man kann das Licht manchmal finden. Vielleicht versteht man manche Menschen und ihre Gefühle sogar ganz ohne Worte.«

»Das glaube ich auch«, murmelte Tigwid und sah sie an. Vernehmliche Stille trat ein.

»Ach, herrje, diese Kälte, ich werde ja ganz rot!« Sie klatschte in die Hände und rieb sich die Finger. »Meine Nase ist bestimmt ganz rot, was? Und meine Wangen glühen, ich merke schon, diese Kälte...«

»Soll ich das Fenster ... ach, ist ja keine Scheibe drin.« Tigwid, der bereits aufgesprungen war, wiegte sich angesichts des glaslosen Fensters unentschlossen von den Zehen auf die Fersen. »Tja, ähm... Vielleicht ist Vampa ein ausreichender Beweis für die Polizei.«

»Ein Junge mit Gedächtnisschwund beweist gar nichts. Und mit seiner Unsterblichkeit kommen wir höchstens in einen Zirkus.«

»Hm.« Tigwid kratzte sich den Hinterkopf. Vampa sah ihn an und zerzauste sich unauffällig die Haare.

Eine Weile herrschte beklommenes Schweigen. Apolonia ließ das Notizbuch sinken und vergrub das Gesicht in den Händen.

»Ich habe Hunger«, flüsterte sie erstickt. In Wirklichkeit war es viel mehr als das. Seit dem Tod ihrer Mutter war sie hilflos. Und das Gefühl der Ohnmacht war durch das Verrücktwerden ihres Vaters bloß stärker geworden. Niemand glaubte ihr. Sie war ganz auf sich selbst angewiesen. Und jetzt war ihr kalt, sie war müde und hatte seit mehr als einem Tag nichts mehr gegessen.

»Hier! Apolonia, ich habe Brot.«

Sie hob den Kopf und sah zu, wie Tigwid sich ein halbes Brot aus der Hose fischte.

»Hast du dir das aus dem Hintern gezogen?«

Ein schalkhaftes Blitzen trat in seine Augen. »Tja, woher weißt du so was bloß immer?«

Mit einem ungewollten Grinsen nahm Apolonia das Brot entgegen und biss ab. Wenn Trost sich in etwas Essbares verwandeln könnte, es hätte für Apolonia wie dieses Brot geschmeckt. Sie zog die Brauen hoch, während sie kaute, und versuchte, nicht allzu gierig auf den nächsten Bissen zu wirken.

Tigwid begann, auf und ab zu gehen. »Also, wir alle drei wollen die Dichter finden und ihnen das Handwerk legen. Die Polizei hilft uns erst, wenn wir einen Beweis haben. Ein perfekter Beweis wäre Vampas Buch.«