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Schließlich zog Mebb die Handschuhe wieder an und erhob sich. »Ich fürchte, ich habe nicht genug Zeit für Kinderspiele. Wenn du so weit bist, mit uns zu kooperieren, komme ich wieder.« Sie drehte sich um und verließ das kleine Verhörzimmer.

Soligo ordnete seine Hemdsärmel und folgte ihr wortlos. Mit einem Klicken fiel die Zimmertür hinter ihnen zu.

Tigwid blieb alleine auf seinem Stuhl zurück. Ein bleiernes Elendsgefühl kam mit der Stille über ihn. Festgenommen... Er war seit drei Jahren nicht mehr festgenommen worden!

Wenigstens hatte er weder seinen Namen noch Apolonias verraten und der Gedanke spendete ihm Trost. Wenn die Polizei erst einmal erfuhr, dass er für Mone Flamm arbeitete, ließ man ihn gewiss nicht gehen, ehe er auspackte. Und das konnte er natürlich nicht.

Tigwid schloss die Augen. Er brauchte einen Plan, um hier rauszukommen.

Die Polizei würde ihm nicht helfen, Morbus und die Dichter zu überführen, das stand fest - er hatte es eigentlich auch nicht erwartet. Wenn er es nicht besser wüsste, würde er die Wahrheit selbst nicht glauben können.

Er musste unbedingt Apolonia und Vampa finden und Professor Ferol das Blutbuch stehlen. Das war ihre einzige Rettung.

Aber er wusste nicht einmal, wo Apolonia und Vampa waren und ob es ihnen gut ging. Vielleicht steckten sie in der Klemme... Vielleicht umzingelten sie in diesem Augenblick die Dichter und raubten Apolonia ihre Erinnerungen. Und sollte er sie je wieder treffen, würde sie längst vergessen haben, dass sie sich gekannt hatten... Tigwid drückte sich die Handballen gegen die Augen.

Es war dunkel geworden. Samtig blaue und violette Wolkenschleier zogen über den winterlichen Himmel. Bald glommen Lichter in den Straßen und Häusern auf, wie schläfrige Augen, die eins nach dem anderen unter der Schneedecke hervorlugen.

Bassar wandte sich vom Fenster ab, als es an seiner Bürotür klopfte. »Kommen Sie herein.«

Soligo trat ein, gefolgt von Kommissarin Mebb. Seine Weste war aufgeknöpft und flatterte ihm um die Brust, als er mit großen Schritten auf Bassars Schreibtisch zuging und auf dem einzigen Besucherstuhl Platz nahm.

»Inspektor Bassar«, grüßte Soligo und salutierte völlig übertrieben.

»Kommissare«, grüßte Bassar zurück und nickte Mebb zu, die die Bürotür schloss und sich mit gefalteten Händen neben Soligo stellte.

»Nehmen Sie Platz«, beeilte sich Bassar zu sagen und bot ihr seinen Stuhl an.

»Danke, ich stehe gerne.«

Bassar räusperte sich und setzte sich auf die Tischkante. »Also. Was habt ihr über den Jungen rausgefunden?«

»Dass er’ne kleine Ratte ist«, sagte Soligo. »Hält sich für besonders hart. Aber das werd ich ihm schon noch austreiben.«

Mebb erklärte: »Er beharrt darauf, dass der Tod von Kollege Frall ein Unfall war. Niemand habe ihn mit Absicht vor den fahrenden Zug gestoßen.«

Bassar runzelte die Stirn. »Und glauben Sie ihm?«

Soligo sagte »Nein«, als Mebb »Ja« sagte. Die Kommissare sahen sich an, dann drehte Soligo den Kopf und trommelte ungeduldig mit den Fingern auf den Tisch.

Bassar holte eine Zigarette aus einem Etui in seiner Westentasche und zündete sie an.

»Der Tod unseres Kollegen ist eine Tragödie. Allerdings gilt es im Augenblick vor allem, neue Verbrechen zu verhindern. Mein Gefühl sagt mir, dass der Junge und seine Freunde nicht vorsätzlich einen Polizisten getötet haben. Wozu sollten sie auch?«

Soligo schlug auf den Tisch. »Es gibt genug Scheißer, die einen verdammten Hass auf die Polizei haben, deshalb haben wir schon so manchen guten Mann verloren!«

»Ja. Ich weiß«, sagte Bassar. Dann fischte er einige Unterlagen von seinem Schreibtisch und überflog sie. »Das Unglück von Kollege Frall ist nicht der Grund, weshalb ich Sie beide nach Feierabend hergebeten habe. - Nicht dass irgendjemand hier zurzeit pünktlich Feierabend hätte.«

Mebb lächelte kühl. Das Verbrechen schlief nie - von einigen Polizisten konnte man fast dasselbe behaupten. »Worum geht es?«

Bassar überreichte Mebb die Unterlagen, wobei ein wenig Asche auf das oberste Papier rieselte. »Erinnern Sie sich an die verschwundenen Kinder?«

»Sie meinen die Entführungs- und Amnesiegeschichten?«, fragte Soligo.

Bassar nickte. »Siebenundzwanzig Kinder galten vor einer Woche als vermisst. Raten Sie mal, was wir in Eck Jargo gefunden haben.«

Mebb durchblätterte die Unterlagen und ihre Augen wurden groß. »Leichen?«

»Wo?« Soligo zog ihr das oberste Papier aus der Hand.

Mebb sah Bassar an. »Tote Kinder?«

»Sieben Leichen wurden aus Eck Jargo geborgen. Sie waren in den Erdwänden vergraben. Zwei konnten bereits identifiziert werden, ein zwölfjähriger Junge und eine Sechsjährige. Beide gelten seit einigen Monaten als vermisst.«

»Die Todesursache?«, fragte Mebb.

»Das ist der springende Punkt.« Bassar musste lächeln; ein seltsames, verwirrtes Lächeln, das ganz und gar ungewollt war. »Es konnten keine äußerlichen Verletzungen festgestellt werden. Sie sind nicht erstickt, haben keine Stich- oder Schusswunden, ihnen wurde scheinbar kein Haar gekrümmt.«

»Also Gift«, sagte Soligo achselzuckend.

Aber Bassar schüttelte den Kopf. »Die Laboruntersuchungen bestätigen, dass sie nicht vergiftet wurden. Es ist fast, als hätten ihre Herzen einfach zu schlagen aufgehört. Gut, einmal mag das vorkommen. Aber gleich bei sieben Kindern?«

Die drei tauschten ungewisse Blicke. Dann nahm Bassar die Zigarette aus dem Mund, die sich mittlerweile in einem kleinen grauen Bogen krümmte, und streifte die Asche über einem Aschenbecher ab. »Aber das ist noch nicht alles. Es gab einen Boxer in Eck Jargo - ebenden, mit dem der Junge zusammen war. Angaben zufolge war er noch jung, vielleicht vierzehn oder fünfzehn. Es hieß, er könne weder altern noch sterben.«

»Klingt nach einem typischen Banditenmärchen«, bemerkte Mebb. »Der Traum von Unverwundbarkeit.«

»Ja, schon«, sagte Bassar. »Aber es geht noch weiter. In Laternenreich, dieser Opiumhöhle, haben wir drei Kinder gefunden, von Kopf bis Fuß mit Drogen vollgepumpt. Das Merkwürdige ist, dass alle drei weder wissen, wer sie sind, noch, seit wann sie sich in der Höhle befinden. Aber wir wissen es. Die drei wurden identifiziert - es sind Waisenkinder aus dem St.-Augustiner-Waisenhaus. Sie werden seit einigen Wochen vermisst.«

Mebb verengte die Augen. »Auch der Junge hat etwas von Erinnerungsraub erzählt.«

Bassar klopfte auf eine Mappe auf seinem Tisch. »Ich weiß.«

»Reichlich unglaubwürdig«, bemerkte Soligo. »Der Kerl hat was von Motten erzählt. Ich sage euch, der will uns an der Nase rumführen.«

»Das denke ich auch«, sagte Mebb nach kurzem Zögern. »Ich weiß nicht, wieso die vermissten Kinder an Gedächtnisschwund leiden. Aber gewiss steckt keine Zauberei dahinter. Ich würde nach einem Nervenarzt oder Chemiker fahnden, der weiß, wie man ein Gift herstellt, das keine Spuren hinterlässt.«

»Also ein intellektueller Psychopath.« Bassar strich sich über die Wangen. Er hatte seit einigen Tagen keine Zeit mehr für eine ordentliche Rasur gefunden und kratzte nervös an seinen Bartstoppeln. »Ich finde die Geschichte unseres jugendlichen Freundes auch nicht sehr überzeugend. Aber heute Morgen war eine alte Bekannte von uns hier. Apolonia Spiegelgold.«

»Die kleine Nervensäge?«, bemerkte Soligo.

»Ich war nicht da, aber sie hat meinem Sekretär eine ziemlich wirre Geschichte erzählt. Verblüffenderweise ist sie der des Jungen nicht unähnlich.«