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Mebb starrte ihn an. »Dann - war die kleine Spiegelgold womöglich das Mädchen, das Frall vor den Zug gestoßen hat? Den Aussagen der anderen beiden Polizisten zufolge ist sie etwa im selben Alter und hat dunkle Haare. Die Beschreibung trifft auf sie zu.«

»Daran habe ich noch gar nicht gedacht«, gab Bassar zu. »Aber Fralls Tod ist eine andere Geschichte. Fest steht, dass die kleine Spiegelgold dasselbe gesagt hat wie der Junge.«

»Aber wieso? Wieso erzählen sie dieses Märchen von Motten?«

»Ist doch glasklar.« Soligo lehnte sich zurück. »Die Kinder wurden von ihrem Auftraggeber, nämlich dem Täter, der hinter den Amnesien und Entführungen steckt, angeheuert, um die Polizei in die Irre zu führen. Vielleicht werden sie erpresst.«

Eine Weile dachte Bassar darüber nach. Aber wieso sollte jemand Kinder eine so absurde Geschichte erzählen lassen? Wäre es denn nicht einfacher, eine konkrete Person anzuschwärzen, anstatt einen Haufen Zauberer zu erfinden?

»Es gibt nur eine Erklärung«, sagte Soligo. »Der Täter ist wirklich geisteskrank. Er macht sich über uns lustig.«

Bassar drückte seine Zigarette aus und ordnete einige Akten auf seinem Tisch, die er heute Nacht noch durcharbeiten wollte. »Wir müssen ein paar Leute zur kleinen Spiegelgold schicken und sie verhören. Nein, ich glaube, ich werde persönlich hingehen. Morgen früh.«

»Was ist mit dem Jungen?«, fragte Mebb.

»Wir lassen ihn laufen.«

»Was?«, empörte sich Soligo. »Der Junge und seine Freunde haben drei Polizisten verprügelt, sind geflohen und haben vielleicht einen Mord begangen! Laufen lassen?!«

»Unter geheimer Beobachtung«, sagte Bassar. »Der Junge wird bestimmt zu seinem Auftraggeber zurückkehren und ihm alles erzählen. Und dann haben wir mit etwas Glück den Täter, der hinter der Sache steckt.«

Mebb sah aus dem Fenster. Es war bereits finster draußen und die Glasscheibe zeigte nur noch ihre Spiegelbilder. »Der Junge wird Verdacht schöpfen, wenn wir ihn einfach laufen lassen. Er ist sowieso schon sehr misstrauisch. Was an den Methoden gewisser Leute liegen könnte.« Sie warf Soligo einen kurzen Blick zu, aber der Kommissar bemerkte es nicht.

»Damit der Junge nichts riecht, inszenieren wir ein kleines Schauspiel. Dabei kann uns eine Bekannte aus Eck Jargo behilflich sein.« Bassar zog ein Blatt aus seinen Unterlagen und übergab es Mebb.

Ein dünnes Lächeln flog über das Gesicht der Kommissarin, als sie las. »Oh. Die hat wirklich genug bei uns zu bereinigen. Auch wenn sie schlau genug war, sich nie direkt erwischen zu lassen.«

»Wer?«, wollte Soligo wissen.

»Nun.« Bassar reichte das Blatt an den Kommissar weiter. »Am besten unternehmen Sie, Soligo, eine kleine Spritztour mit dem Jungen.«

Tigwid wurde durch lange Korridore und verlassene Treppen hinabgeführt. Bald blieben die grün gestrichenen Flure und die elektrischen Lichter hinter ihnen zurück. Petroleumlampen erhellten die steinernen Mauern.

»Machen wir einen Museumsausflug?«, bemerkte Tigwid, als sie unter einem runden Torbogen hindurchliefen, der statt an moderne Sicherheit eher an einen Weinkeller erinnerte.

Zur Antwort versetzte Kommissar Soligo ihm einen Stoß zwischen die Schulterblätter. »Klappe halten!«

Tigwid war klug genug, dem Befehl nachzukommen. Vermutlich waren alle Gefängnisse nach der Stürmung von Eck Jargo so voll, dass man ihn in dieses uralte Verlies verfrachtete. Vor ihnen tauchte eine halb geöffnete Eisentür auf, durch die kalter Wind und Schneeflocken wehten. Soligo schob die Tür weiter auf und ein rostiges Quietschen hallte durch den Gang. Tigwid blickte ungläubig in einen verschneiten Gefängnishof. Hohe Backsteingebäude erhoben sich ringsum, nur rechts trennte ein doppelter Stacheldrahtzaun den Hof von einer schmalen Straße. Im Licht der Laternen parkte ein Polizeiwagen, zu dem Soligo Tigwid bugsierte. Ein Blaurock stieg aus und öffnete die Hintertür, dann fasste Soligo Tigwid am Nacken und schubste ihn in den Wagen.

»Wo bringt ihr mich hin?«, rief Tigwid, als er sich wieder aufgerappelt hatte.

Mit einem verächtlichen Grinsen schlug Soligo die Tür zu und schloss ab. Tigwid lauschte seinen Schritten draußen im Schnee, drehte sich um und beobachtete durch eine Gitterabsperrung, wie Soligo und der Blaurock sich nach vorne setzten. Der Motor sprang an und sie fuhren zum Tor im Zaun. Soligo und der Blaurock zeigten dem Pförtner ihre Dienstausweise. Tigwid beugte sich dicht ans Gitter, um zu hören, was sie sagten.

»Wegen Überfüllung ... in die Ersatzzellen bringen.«

Der Pförtner nickte Soligo verstehend zu. Das Tor wurde geöffnet und sie verließen den Hof. Der Motor brummte lauter, bis er in ein gleichmäßiges Grummeln verfiel. Draußen wirbelten die Schneeflocken an den Fenstern vorbei und verwischten die Finsternis zu flimmernden Strähnen. Tigwid lehnte den Kopf gegen das Gitter. Er hatte sich immer erträumt, mal in einem Automobil zu fahren. Allerdings nicht zu seiner nächsten Gefängniszelle.

Er schlang die Arme um die Beine und wärmte sich die Knie mit seinem Atem. Sein Kopf schmerzte noch von den Schlägen der Polizisten. Er hatte Beulen, die sich anfühlten, als wären ihm ein paar Köpfe mehr gewachsen. Und er war müde - so schrecklich müde nach den langen Verhörstunden! Aber trotz des angenehmen Schaukelns und Rumpelns wagte er nicht einzunicken. Zum tausendsten Mal schweiften seine Gedanken zu Apolonia und Vampa. Wahrscheinlich waren sie jetzt unterwegs, irgendwo da draußen, in den Gassen und Straßen, an denen Tigwid so schnell vorbeifuhr, dass er sie nicht einmal erkannt hätte, wenn sie direkt dort gestanden wären. Oder vielleicht waren sie schon längst bei Ferol eingebrochen und hatten das Blutbuch gefunden. Aber wenn die Dichter sie entdeckten! Apolonia hatte zwar ohne Frage die Begabung, ihr Gegenüber mit Worten außer Gefecht zu setzen, doch was ihre Einbruchs- und Fluchtfähigkeiten betraf, zermürbten ihn die Sorgen. Wenn er doch nur ...

Ein schrilles Bremsgeräusch erklang, der Wagen schlenkerte nach links und rechts und Tigwid stieß hart mit dem Gesicht gegen das Gitter. Laute Stimmen erklangen. Benommen öffnete Tigwid die Augen. Die Fahrertür wurde aufgerissen und ein maskierter Mann zerrte den Blaurock aus dem Auto. Tigwid blinzelte. Träumte er? Jetzt wurde auch Soligo von einem unbekannten Maskierten vom Sitz gezogen. Draußen tanzte der Schnee im Scheinwerferlicht... da liefen Gestalten umher ... mehrere Wagen versperrten die Straße.

Tigwid schrak auf, als die Tür hinter ihm aufgerissen wurde. Ein Schatten fiel über ihn. Dann erkannte er schemenhaft ein Gesicht, umrahmt vom weißen Licht der Scheinwerfer.

»Komm schnell!«

»Dotti?« Tigwid keuchte. Das war doch unmöglich! »Was machen Sie hier?«

»Dich rausholen. Jetzt komm!«

Entgeistert kletterte Tigwid aus dem Wagen und starrte Dotti an. Sie atmete schwer und starrte zurück und für mehrere Augenblicke waren beide sprachlos.

»Was ist hier los?«, brachte er endlich hervor. Dottis Lippen öffneten sich, schlossen sich wieder und begannen zu beben.

»Ich war es«, hauchte sie kaum hörbar. »Die Polizisten in der Lagerhalle...« Sie verbarg den Mund hinter zitternden Händen, dann zog sie Tigwid an sich. Er spürte ihren Schnapsatem am Ohr. »Es ist alles geplant, die Fahrt und dieser Überfall und ich - die Maskierten, das sind Blauröcke. Sie verfolgen dich.«

»... Was?«

Dotti ließ ihn los, trat mehrere Schritte zurück und warf einen Blick zu den verkleideten Polizisten.

»Sag Vampa, es tut mir leid«, hauchte sie. Dann drehte sie sich um und schritt gefasst zu den maskierten Männern.

Tigwid schluckte schwer. Durch den Wagen konnte er die Männer sehen, die den Fahrer und Soligo mit Pistolen in Schach hielten. Sie hatten ihm den Rücken gekehrt und sahen gar nicht in seine Richtung.