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Geh, befahl Tigwid sich selbst, doch seine Füße waren wie festgefroren. Jetzt beweg dich!

Endlich riss er sich vom Anblick der verkleideten Polizisten los. Er bog in die nächste Gasse ein. Seine wackeligen Schritte wurden schneller, als das Licht der Scheinwerfer hinter ihm blieb, er tauchte in die Dunkelheit ein und fing an zu laufen. Seine Schritte auf dem Kopfsteinpflaster klangen seltsam hohl und unecht.

Es ist alles geplant. Sie verfolgen dich.

Jetzt ergab alles einen Sinn. Nur zwei Polizisten, die ihn mitten in der Nacht in eine andere Zelle fuhren. Und davor hatte Soligo ihm noch die Handschellen abgenommen! Natürlich, die Polizei verfolgte ihn, um herauszufinden, was er ihnen angeblich verschwieg. Er schnaubte verächtlich und spürte, wie Trotz in ihm aufkeimte, gegen die Polizei und die Erwachsenen und überhaupt die ganze Menschheit, die ihm nie vertraute. Glücklicherweise unterschätzten sie ihn auch ... Nun hütete er sich davor, sie zu unterschätzen. Um die Polizei abzuhängen, würde er all seine Künste einsetzen.

Bassar trat seine Zigarette aus, als er den Jungen um die Straßenecke kommen sah. Er zog sich die Melone tiefer ins Gesicht und glitt aus den Schatten der Hausmauer, um die Verfolgung aufzunehmen.

Hochzeitskuchen

Irgendwo rauschte es. Apolonia träumte, dass sie unter Wasser war. Alles an ihr war kalt und feucht, sie fror und konnte sich nicht bewegen. Haare klebten ihr im Gesicht. Hände streiften sie. Oder waren es nur die eisigen Wasserströmungen? Egal was es war, es drückte sie nieder, drückte ihr auf den Mund und erstickte sie.

Mit einem Luftschnappen kam Apolonia zu sich und riss die Augen so schnell auf, dass ihr ein Stich durch die Schläfen ging. Erst allmählich gewöhnte sie sich an das dämmrige Dunkel und die verschwommenen Farben formten sich zu Gegenständen. Bevor sie sich fragen konnte, wo um Himmels willen sie gelandet war, entdeckte sie Vampa. Er saß direkt vor ihr und starrte sie an, als hätte er sie schon länger beobachtet.

»Wo bin ich?« Ihre Stimme klang heiser. Sie befanden sich in einem engen, niedrigen - nun, einen Raum hätte sie dieses Loch nicht unbedingt genannt. Überall um sie türmten sich Bücher auf, verdeckten die schimmeligen Wände und dienten Vampa als Hocker. Sogar unter der zerfledderten Matratze, auf der sie lag, spürte sie etwas verdächtig Hartes, Eckiges.

»Keine Angst«, sagte Vampa. In demselben Ton hätte er auch Ich werde dich aufschlitzen sagen können.

Apolonia war nicht allzu beruhigt. »Was ist passiert?«

»Die Polizei hat Tigwid gefasst. Du hattest einen Schwächeanfall. Ich habe dich in Sicherheit gebracht.«

Apolonia runzelte die Stirn. »Wo sind wir?«

»Wo ich schlafe«, erwiderte Vampa.

Apolonia rieb sich den brummenden Schädel. »Dagegen ist Tigwids Zuhause ja reiner Luxus. Gewesen.« Sie warf Vampa einen nervösen Seitenblick zu. Er guckte sie ja immer noch an! Selbst wenn sie es nicht zugegeben hätte, war ihr in seiner Gegenwart ein wenig flau... Genau genommen fürchtete sie sich gewaltig. Ihm war alles zuzutrauen. Und wenn er tatsächlich unsterblich war ...

»Und Tigwid ist bei der Polizei?«

Vampa nickte.

»Wir müssen sofort hin und die Dinge aufklären, damit er freigelassen wird!«

Als Apolonia die braunen Decken zurückschlagen wollte, hielt Vampa sie am Handgelenk fest. Sie erschauderte, versuchte aber, sich nichts anmerken zu lassen.

»Wir können nicht zur Polizei. Sie suchen mich und der Polizist wurde vom Zug plattgemacht.«

Bilder kamen Apolonia in den Sinn... furchtbare Bilder, und gallige Übelkeit befiel sie. Sie hatte gesehen, wie jemand überfahren worden war. Und sie trug Mitschuld - nein, daran durfte sie nicht denken! Nicht jetzt.

»Was sollen wir denn machen?«

»Es ist Nacht und sehr kalt draußen.« Vampa zögerte kurz. Dann hob er die Decken hoch und legte sie Apolonia um die Schultern. Sie waren so schwer, dass sie den Rücken krümmte.

Vampa schaute schon wieder so. Wie schwarze Monde waren seine Augen auf sie gerichtet, fern und tot und doch mit unheimlicher Schärfe. »Schlaf jetzt, Apolonia.« Seine Stimme schwang seltsam um, als er ihren Namen sagte. Als habe er ihn allein deshalb ausgesprochen, um seinen Klang mit der Zunge zu formen.

Apolonia riss sich von seinem Blick los und entdeckte ein Buch, das er auf dem Schoß liegen hatte. Es war ein dunkelroter, schwerer Foliant aus Leder.

»Was ist das?«, fragte sie.

Sofort legte Vampa eine Hand darauf, als könne das Buch aufschnappen - oder Apolonia es ihm wegreißen. »Es ist Der Junge Gabriel

Es dauerte einen Moment, ehe Apolonia verstand. »Tig... Gabriels Buch, das echte?«

Vampa nickte.

»Gib es mir.« Apolonia streckte sich nach dem Buch aus, aber Vampa zog es weg. »Du kannst es nicht lesen.«

Apolonia zog die Augenbrauen zusammen. »Wieso?«

»Du hast deine Identität und Vergangenheit. Wenn du Der Junge Gabriel liest, hast du plötzlich zwei und wirst verrückt.«

Apolonia erinnerte sich an die drei Polizisten in Eck Jargo, die einen einzigen Satz in einem Blutbuch gelesen hatten. Ja, sie wusste von der Macht der Bücher. Aber hatte Morbus nicht gesagt, dass Motten fähig wären, zwei Identitäten zu tragen? Und schließlich war sie sogar resistent gewesen, als Morbus in ihre Erinnerungen eingedrungen war.

»Ich werde nicht schizophren«, sagte sie entschieden und wollte abermals nach dem Buch greifen. »Ich bin eine Motte. Gib her.«

»Nein«, antwortete Vampa leise. Er schloss beide Hände um das Buch. »Es ist ... Wer die Erinnerungen eines anderen liest, liebt ihn wie sich selbst. Das hast du selbst erzählt.«

Augenblicklich ließ Apolonia den Arm sinken. »Ach. Ja stimmt ... Ich sollte Der Junge Gabriel besser nicht lesen.« Sie schwieg kurz, dann sah sie Vampa fragend an. »Soll das heißen - du liebst Tigwid?« Sie hätte schwören können, dass er errötete. Aber gewiss war es nur das Licht der Petroleumlampe, das auf seinem totenblassen Gesicht flackerte.

»Nein. Ich kann nicht lieben.«

Apolonia zog die Knie an den Körper und verfiel in nachdenkliches Schweigen. Als sie seinen kalten, reglosen Blick abermals bemerkte, wurde sie unruhig.

»Was ist denn?«, fragte sie ein wenig gereizt. »Habe ich Popel an der Nase oder was?«

»Nein. Ich... Hast du Hunger?« Er stand überhastet auf und zog rechtzeitig den Kopf ein, um ihn sich nicht an der Decke anzustoßen. »Du hast lange nichts mehr gegessen. Du brauchst Essen, sonst bekommst du wieder einen Schwächeanfall.«

»Wo willst du hin?«

»Ich besorge dir etwas zu essen. In Ordnung?« Irgendetwas in seinem Gesicht verzerrte sich; es schien, als versuche er zu lächeln. Er öffnete die Lippen und zeigte die Zähne. Im schummrigen Licht sah er wie ein Totenkopf aus. Apolonia lächelte nicht zurück.

»Ich bin gleich wieder da. Gleich. In Ordnung?« Nach einem Augenblick legte er das Blutbuch behutsam auf einen Bücherstapel. Dann verschwand er hinter der Zimmerwand.

Apolonia hörte, wie seine Schritte verhallten, und überlegte, was sie nun tun sollte. Wann war sie das letzte Mal zu Hause gewesen? Es schien Jahre zurückzuliegen. Als sie den zerbrochenen Spiegel bemerkte, der über der Matratze lehnte, betrachtete sie sich: Sie sah ja aus wie eine Bettlerin! Entsetzt strich sie sich über die strähnigen Haare und die schmutzigen, bleichen Wangen. Sie fühlte sich also nicht nur, als wäre sie Jahre nicht zu Hause gewesen, sie sah auch so aus.

Mit einem Seufzen wandte sie sich vom Spiegel ab. Und ihr Blick fiel auf Tigwids Blutbuch.