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»Das ist also Gabriel«, murmelte sie. Nach kurzem Zögern kroch sie unter den Decken hervor. Ihre Finger zuckten zurück, als sie das Buch berührte - doch schließlich war es ein Buch, kein Lebewesen. Was sollte schon passieren? Apolonia nahm es in die Hände und musterte den roten Ledereinband. Er war schlicht und ohne Aufschrift. Ein paar dunkelbraune Flecken von getrocknetem Blut waren zu erkennen.

Hier hielt sie also Tigwids schönste Erinnerungen in den Händen. Es war bizarr. Für einen Augenblick überlegte sie, wie es wäre, wenn ihre Erinnerungen in einem Blutbuch stünden. Wäre sie dann noch sie selbst? Was machte überhaupt ›ihr Selbst‹ aus? Vampa hatte seine Identität mit seinen Erinnerungen verloren, seine Menschlichkeit aber war ihm mit seinen Gefühlen geraubt worden. In gewisser Weise war er tatsächlich eine Leiche, ein leerer Körper, dessen Seele in einem endlosen Schlaf aus Buchstaben gefangen war. Oder? Oder hatte nur der Geist, nicht aber die Seele etwas mit Erinnerungen zu tun? Aber was war schon eine Seele, wenn nicht die Gabe zu fühlen und zu empfinden ...

Apolonia strich mit den Fingern über das kühle Leder und stellte sich vor, dass das tatsächlich Tigwid war. Aber nein. Dieses Buch hatte nichts mit dem Tigwid zu tun, den sie kannte. Der Junge im Buch war ein Zwilling aus einer parallelen Traumwelt, nur real in der Vergangenheit, in Blut und Tinte.

Sollte sie nicht mal hineingucken? Sie war schließlich eine Motte, ein kurzer Blick konnte doch nicht schaden.

Und trotzdem traute sie sich nicht, das Buch zu öffnen, bis ihr klar wurde, dass sie sich nicht traute - da atmete sie tief ein und fasste Mut. Resolut klappte sie den Buchdeckel auf.

Die erste Seite war gelblich und leer. Die zweite auch. Gleich musste sie sich auf die Macht der Wahren Worte gefasst machen. Ihre Finger zitterten, als sie umblätterte. Auf der dritten Seite stand geschrieben:

Von Professor Rufus Ferol.

Das Neunzehnte Buch.

Der Junge Gabriel

Sie starrte die Worte eine Weile an. Aber sie spürte nichts Außergewöhnliches, außer dem kalten Wassertropfen, der von der Decke in ihren Nacken gefallen war. Sie wischte sich das Wasser wütend weg und blätterte um.

Eine Zeichnung aus dunkelroter Bluttinte füllte die Seite aus. Apolonias Herz blieb stehen.

Die Zeichnung war Tigwid.

Er sah sie an, direkt aus der Tinte heraus, er war es, ganz unverkennbar, so unglaublich echt, dass Apolonia der Atem stockte und sie sich nicht regen konnte, als sehe er sie an, wohl wissend, dass sie seine geheimste Wahrheit in den Händen hielt und soeben dabei war, sie zu ergründen. Sie konnte sich nicht von der Zeichnung losreißen. Auf die Schrift war sie gefasst gewesen, ja - aber das... die schiere, unglaubliche Echtheit, die Schönheit der Zeichnung war überwältigend.

Erst als Apolonia Geräusche hörte, klappte sie das Buch hastig zu, legte es auf den Stapel zurück und rollte sich in die Decken. Ihr Herz raste. Noch immer sah sie die Zeichnung vor ihren geschlossenen Augen, als hätte sie sich in ihre Netzhaut gebrannt.

Schritte näherten sich. Dann trat jemand zwischen sie und die Petroleumlampe und warf einen Schatten über sie. Apolonia tat, als wäre sie eingeschlafen - wenn sie sich jetzt Vampa zuwandte, würde er ihr bestimmt von den Augen ablesen können, was sie gesehen hatte.

Sie hörte, wie Stoff raschelte, als Vampa in die Hocke ging. Sein Atem ging schnell, er musste gerannt sein. Plötzlich berührte er eine Strähne ihrer Haare. Ganz vorsichtig nahm er sie in die Hände und strich mit den Fingern darüber.

Erschrocken drehte sie sich um. Er starrte sie an - und für den Bruchteil einer Sekunde schien es, als sei da eine Regung in seinen Augen. Ein Schimmer von Entsetzen. Er ließ ihre Haare los und wich so hastig zurück, als hätte er sich verbrannt.

»Ich habe Essen geholt«, sagte er schnell und hob einen riesigen Hochzeitskuchen an, den er auf einem Bücherstapel abgelegt hatte. Seine Finger gruben Dellen in die Sahnewände, als er Apolonia den Kuchen hinhielt.

Apolonia richtete sich auf. »Wo hast du denn den her?«

»Aus einer Konditorei.«

»Welche Konditorei hat jetzt noch offen? Ich dachte, es wäre Nacht.«

»Die Konditorei war nicht offen.«

»Verstehe.« Apolonia sah ihn misstrauisch an, wie er ihr so den Kuchen anbot, als würde er erwarten, dass sie ihr Gesicht hineintauchte. Schließlich bohrte sie ihren Zeigefinger in die Sahne und kostete. »Hm.« Es schmeckte köstlich. »Wieso eine Hochzeitstorte?«

»Die Brote waren alle noch nicht gebacken. Und... ich dachte ...«

»Du dachtest, für jemanden wie mich wäre etwas Exquisiteres angebracht.«

Vampa nickte.

Apolonia bohrte noch einmal den Finger in den Kuchen und schleckte ab. »Hast du Besteck?«

Vampa sah sie an, als hätte sie in einer fremden Sprache gesprochen.

»Also nicht.« Sie zögerte. »Wenn ich das hier mit den Fingern essen soll, dann musst du dich umdrehen. Man guckt sich nicht beim Essen zu, wenn man gezwungenermaßen wie ein Schwein isst. Verstanden?«

Wieder nickte Vampa, dann stellte er behutsam den Kuchen vor ihr ab, drehte sich um und stützte die Arme auf die Knie. Apolonia vergewisserte sich, dass er nicht zu ihr zurückschielte, dann griff sie vorsichtig mit der Hand in den Kuchen und stopfte sich alles auf einmal in den Mund. Köstlich!

Eine Weile futterte sie leise in sich hinein und Vampa starrte die Wand an. »Apolonia?«

Sie verschob einen Riesenbissen in die linke Backe. »Hm?«

»Es ... tut mir leid wegen der Ohrfeige.«

Sie schluckte hinunter. »Nun. Was geschehen ist, ist geschehen.«

Vampa zögerte kurz. »Aber ich wünschte, es wäre nicht geschehen.«

»Vergiss es einfach.« Wenn er es jetzt so bereute, warum hatte er es dann überhaupt getan?

Er wollte sich zu ihr umdrehen, da fiel ihm auf, dass sie noch aß, und er wandte sich gehorsam wieder der Wand zu.

Als ihr größter Hunger gestillt war, erwachte Apolonias Mitgefühl. Sie nahm eine Handvoll Kuchen und fragte: »Willst du denn nichts essen?«

»Ich ... doch ...«

»Streck die Hand aus.« Apolonia ließ den Kuchen in seine Hand fallen und ihre Finger berührten sich.

»Danke«, murmelte er.

Apolonia setzte sich zurück und betrachtete ihn, während sie aßen. Vampa war nicht gerade zart gebaut, trotzdem verhieß seine Statur kaum die Kraft, die er besaß. Sein Rücken war schmal, und der weiße Nacken, der unter dem dunklen Haar sichtbar war, wirkte fast mädchenhaft. Dabei fiel Apolonia auf, dass sich etwas verändert hatte... Sie runzelte die Stirn. Waren seine Haare nicht vorhin noch zehn Zentimeter kürzer gewesen?

Ein behüteter Bericht

Jigwid ging mit gleichmäßigen Scheitten durch die Straßen. Er wusste jetzt mit Sicherheit, dass Dotti die Wahrheit gesagt hatte: Er wurde verfolgt. Seine scheinbare Befreiung war ein abgekartetes Spiel gewesen. Einmal hatte er so getan, als müsse er sich den Schuh binden, und zurückgeblickt; am anderen Ende der Straße war ein Mann mit Mantel und Melone geradewegs im nächsten Hauseingang verschwunden. Typisch Polizeispion.

Aber Tigwid war schließlich ein Meister im Beschatten - und jemanden abzuhängen, war für ihn ein Kinderspiel.

So ging er weiter, die Hände in den Taschen vergraben und den Kopf gesenkt wie jemand, der von einem zufällig vorbeikommenden Blaurock nicht erkannt werden möchte. Es schneite nicht mehr, doch die Kälte war nur noch bitterer geworden. Schuppige Pelze aus Raureif überzogen die Straßenlampen und Eiszapfen wuchsen von den Regenrinnen der Häuser wie lange Fingernägel. Das Kopfsteinpflaster war glatt und rutschig vor Eis. Tigwids Atem tanzte in weißen Wölkchen vor ihm her.