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Gleich hinter der Brücke erhob sich ein schlichtes weißes Gebäude mit mehreren Messingschildern neben der Tür. Zwischen einem Arzt, einem Bankier, einer Privatdetektei, einer Spedition und einer Anwaltskanzlei wirkte das zierlich beschriftete Schild ziemlich unscheinbar, auf dem der Name Manuel van Flamm unter den schnörkeligen Schriftzug Kunst- und Antiquitätenhandel eingraviert war. Dabei standen alle genannten Unternehmen in Wahrheit unter Flamms Kommando. Der Arzt fischte Kugeln aus Schusswunden und flickte Messerstiche, die man den öffentlichen Krankenhäusern lieber nicht erklären wollte. Der Bankier beschäftigte einige hauseigene Experten, die im professionellen Geldeintreiben und Erpressen geschult waren. Die Anwaltskanzlei kümmerte sich um den Papierkram, der in allen sechs Geschäftszweigen anfiel, und wusch sämtliche Westen rein, weshalb Banditen sie öfter »die flamm’nde Waschküche« nannten. Die Privatdetektei war tatsächlich eine Detektei - wenn man Flamms skrupellose Spionage ehrliche Detektivarbeit nennen konnte. In der Spedition war Tigwid tätig und lieferte vor allem das aus, was durch Mone Flamms Kunsthandel floss, aber er überbrachte auch die Berichte der Detektei. Und auf die hatte er es nun abgesehen.

Er kletterte auf die schmale Überdachung über der Haustür und stieg auf eine breite Stuckverzierung, um das Fensterbrett über ihm zu erreichen. Die Fenster waren hier alt und nicht besonders robust. Tigwid zog sein Messer aus einer versteckten Tasche in seiner Hose und schob die Klinge in die Fensteröffnung. Die weiße Farbe auf dem Holz bröselte, und der Rahmen knackte, als Tigwid das Fenster aufzubrechen versuchte. Aber vergebens. Es war von innen verriegelt und ließ sich nicht öffnen. Tigwid steckte das Messer wieder in seine Tasche und spähte durch die Glasscheibe. Für ihn war ein verschlossenes Fenster kein wirkliches Hindernis.

Drinnen war ein Schiebegriff. Vorsichtig legte er die Handflächen auf das kalte Glas, um dem Schiebegriff näher zu sein. Sein Atem ließ das Fenster beschlagen.

Und da, der Griff begann zu zittern. Unter leichtem Rucken und Zucken glitt er zurück und Tigwid konnte das Fenster problemlos hochziehen.

Ohne seine Mottengabe wären ihm nicht halb so viele Einbrüche geglückt, und seiner Gabe verdankte er auch den guten Ruf, den er als Mone Flamms gewissenhaftester Bote genoss. Trotzdem war es ihm ein Rätsel, wie seine Gabe funktionierte.

Er stemmte sich am Fensterbrett hoch und sprang lautlos in den dunklen Raum. Es war ein Büro mit einem Schreibtisch, einem Ledersessel und einigen Regalen voller Ordner und falscher Bücher, in denen statt Seiten Geld und anderes versteckt war. Er hatte sein Ziel erreicht - das Büro der Detektei. Links erspähte er eine Tür, die in einen anliegenden Raum führte. Da es hier kein Fenster gab und nicht einmal der blasse Mondschein hereindrang, beschloss Tigwid, eine kleine grüne Schreibtischlampe anzuknipsen. Der Raum erhellte sich.

An allen vier Wänden zogen sich graue Aktenschränke hoch. Tigwid ging an ihnen vorüber. Jahreszahlen klebten an den verschiedenen Schränken. Tigwid zog die oberste Schublade auf. Zahllose Papiere und Akten waren durch Trennblätter sortiert, auf denen in alphabetischer Reihenfolge Namen notiert waren. Eine Weile überflog Tigwid sie. Dann schob er die Schublade wieder zu und griff nach einer weiter unten gelegenen. G. Noch weiter unten. Da - M.

Er strich über die dicht gedrängten Papiere. Mafhel Paul, Marek K., Mengel Julius... Tigwid las nur die ersten beiden Buchstaben, bis er Mo entziffert hatte. Wenn es eine Akte über Morbus gab, dann hier. M-o-r...ciz. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Die letzten Buchstaben des Namens konnte er nicht entziffern. Er las den nächsten Namen, aber auch der schien nicht Morbus zu lauten. Und dann ... ja, das konnte er sein: M-o-r-b-u-s Jonathan. Mit zitternden Fingern zog Tigwid die Akte hervor und hielt sie sich genau vor die Augen, um sich noch einmal Buchstabe für Buchstabe zu widmen. Ein M, ganz deutlich, das kannte er. M-o-r-b-u-s. Tigwid schob den Aktenschrank zu und ging mit dem Bericht zur Schreibtischlampe.

Plötzlich hörte er etwas. Augenblicklich griff er nach der Lampenschnur und ließ das Licht erlöschen. Einige schreckliche Momente lang stand er reglos in der Dunkelheit und lauschte.

Da - ein leises Stöhnen aus dem anderen Zimmer. Er zog sein Messer und schlich zur Tür.

Ein unterdrücktes Schnaufen, dann Füße, die auf dem Boden aufkamen, und das Fenster, das leise gegen die Wand stieß - Tigwid rauschte das Blut in den Ohren. Es musste der Polizist sein, der ihm gefolgt war... Sein Magen verwandelte sich zu einer heißen Faust, als er begriff, dass er die Polizei zu Mone Flamm geführt hatte.

Jemand schlich näher, mit der Lautlosigkeit einer Elefantenkuh. Tigwid drückte sich neben der Tür gegen die Wand ...

Ein Mann betrat den Raum. Für einen Herzschlag stand er direkt neben Tigwid, dann machte er einen Schritt an ihm vorbei.

Tigwid holte aus und trat ihm mit voller Kraft gegen das Schienbein.

»Aauh!« Der Mann stürzte zu Boden. Tigwid packte einen Briefbeschwerer, der neben der Schreibtischlampe lag, und schlug ihn dem Mann gegen den Kopf. Der Kopf gab ein dumpfes Plock von sich, der Mann ein merkwürdiges Grunzen. Dann zerrte Tigwid ihn am Kragen zurück und legte das Messer an seinen Hals.

»Ganz still!«

Der Mann stöhnte kläglich. Tigwid sammelte seinen Mut und versuchte, so erwachsen und gefährlich wie möglich zu klingen. »Ich vermute, du bist ein kleiner Schnüffler von der Polizei. Kannst du lesen?«

Der Mann hielt inne. »Was?«

Tigwid drückte ihm die Klinge an die Haut. Manchmal war es am eindrucksvollsten, gar nichts zu sagen.

»Ähem. Ja. Kann ich«, krächzte der Mann.

»Schön.« Tigwid zerrte ihn auf die Beine, ohne das Messer wegzunehmen. Dann drängte er ihn zur Lampe und knipste sie an. Der Mann blinzelte.

»Hier. Lies das vor.« Tigwid schlug die Akte auf.

Bassars schnaufendes Atmen beruhigte sich. »Du hast keine Chance mehr«, sagte er gedämpft. »Meine Kollegen folgen mir mit Spürhunden. Sie sind spätestens in drei Minuten hier.«

Tigwid fühlte sich von den Kniekehlen bis in den Nacken wie elektrisiert. Aber er bezwang seine Panik. »Lies vor, los!«

Bassar nahm die Akte in Augenschein. Dann las er stockend vor, die Messerklinge noch immer am Hals. »MORBUS, JONATHAN. Siehe auch Verbindung zu: Außerpolizeiliche Aufklärungsarbeit an den Umständen des Feuers in Buchhandel Spiegelgold am 3. August. Auftraggeber: Elias Spiegelgold. Aushändigung der Berichterstattung an den Auftraggeber: 10. November. Berichtkopie: siehe SPIEGELGOLD, ELIAS

Bassar machte eine Pause und auch Tigwid hielt erschrocken inne. Den Bericht hatte er am zehnten November an Elias Spiegelgold überbracht! Was hatte der Bericht mit Morbus zu tun?

Bassar las weiter: »Detektei und Transportservice angefordert von Auftraggeber: Jonathan Morbus. Aushändigung des gewünschten Objekts samt Ermittlungsbescheid: 5. August.

Berichtkopie: Das Objekt ist rechtmäßiger Besitz des genannten Auftraggebers. Es handelt sich um die Wiederbeschaffung eines entwendeten Objekts. Das Objekt befand sich zum Zeitpunkt der Auffindung im Besitz von A. Spiegelgold, Buchhändler in der Buchhandlung Spiegelgold, Königsdomer Platz 33. Das Objekt ist ein Buch. Kein Schaden am Objekt entstanden. Das Objekt wird dem rechtmäßigen Besitzer und Auftraggeber hiermit zurückgeliefert. Zeugen dieser Transaktion, die keine unmittelbaren Angestellten von M. F. Privatdetektei oder Heirachs Nationallieferungen sind, existieren nicht. DIESER BERICHT IST DEN REGIONALEN UND NATIONALEN BEHÖRDEN NICHT BEKANNT

Bassar starrte das Papier an. Er hatte nicht einmal registriert, dass die Klinge an seinem Hals verschwunden war. Erst als Tigwid sich regte, schluckte auch Bassar und merkte, wie trocken sein Mund geworden war.