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»Ist das alles, was da steht?«

Bassar murmelte »Ja« und überflog den Bericht noch einmal. Das Objekt ist ein Buch. Ein Buch ... Es war dem Bericht zufolge genau einen Tag nach dem Brand aus der Buchhandlung Spiegelgold geholt worden. Aber wie - wie war das möglich? Die Polizei hatte das Gebäude sofort absperren lassen. Und noch viel merkwürdiger war: Dieser Jonathan Morbus hatte einen Detektiv und einen Lieferdienst engagiert, um ein Buch zurückholen zu lassen, und das gleich am ersten Tag nach dem Brand. Es gab nur eine logische Erklärung dafür. Morbus hatte nicht gewollt, dass die Polizei das Buch fand.

Bassar schrak auf, als Tigwid ihm den Bericht aus der Hand riss. Eilig stopfte er das Papier in seine Hosentasche. »So. Und jetzt suchst du alle Akten aus dem Aktenschrank da, die mit Elias Spiegelgold zu tun haben.«

Bassar fühlte die Messerspitze an seinen Rücken hinabgleiten und ging ohne Widerstand auf die Schränke zu. Hatte er sich zuvor noch überlegt, wie er dem Jungen sein Messer entwenden könnte, so dachte er in diesem Moment gar nicht mehr darüber nach, dass er bedroht wurde; der Bericht und die Schränke ringsum, die noch zahllose weitere solcher Entdeckungen versprachen, nahmen ihn vollkommen ein. Er zog ein paar Schubladen auf und suchte nach SPIEGELGOLD, ELIAS.

Irgendwo im Haus erklang ein lautes Krachen. Ein aufgeregtes Bellen irrte herauf. Die Haustür war aufgebrochen worden.

Tigwid rannte augenblicklich los. Als Bassar herumfuhr, war er bereits auf dem Fenstersims.

»Bleib stehen!« Bassar griff nach dem Revolver in seiner Tasche, doch seine Finger bekamen die Taschenlampe zu fassen, und ehe er den Irrtum erkannte, leuchtete er auf das verlassene Fensterbrett. Verwirrt und wütend starrte er die Taschenlampe an, dann pfefferte er sie in eine Zimmerecke und stürzte ans Fenster.

»Er ist unten!«, schrie er. »Sofort hinterher!«

Unten stürmte bereits ein Blaurock aus der aufgebrochenen Tür. Der Junge schien verschwunden - aber nein, er rannte auf die Brücke zu.

»Der Bericht«, stammelte Bassar. »Holt den Jungen zurück!«

Tigwid rannte, so schnell er konnte. Seine Schritte schienen ihm wie ein Trommelwirbel, der die ganze Stadt wecken würde. Im Hintergrund hörte er Rufe, dann Schritte und Hundekläffen. Jemand folgte ihm.

Ein röchelndes Lachen brach aus ihm hervor. Es war aus! Es war alles aus. Er hatte die Polizei geradewegs in Mone Flamms Büro geführt. Er war so gut wie tot.

»Stehen bleiben! STEHEN BLEIBEN!«

Tigwid rannte weiter. Lieber wollte er irgendwo in einer dunklen Gasse von Mone Flamm abgemurkst werden, als dass er erst drei Jahre im Gefängnis auf seinen angeheuerten Mörder warten musste.

Er war auf der Mitte der Brücke angekommen. Unter ihm rauschte der Fluss. Vor ihm eröffneten sich dunkle Seitenstraßen, die Schutz versprachen. Vielleicht konnte er durch eine offene Tür schlüpfen. Oder sich in einem Kanalloch verstecken. Ihm war alles recht.

Ein Schuss fiel. Noch einer. Tigwid glaubte, den Luftzug der Kugel zu spüren, die an ihm vorbeizischte - er zog den Kopf ein, taumelte und lief weiter.

Noch ein Knall. Und ein gedämpftes Geräusch, ein Geräusch, das nicht von außen kam. Sondern aus ihm selbst.

Schmerz durchstrahlte ihn wie ein aufspritzendes Feuer. Er verlor das Gleichgewicht und spürte keinen Boden unter den Füßen. Für ein paar endlose Sekunden war er schwerelos... Dann stürzte eine fremde Macht über ihm zusammen, schlug von allen Seiten auf ihn ein, als wollte sie ihn zerdrücken. Eisige, brüllende Kälte verscheuchte den glühenden Schmerz und sein Bewusstsein gleich dazu.

In der Kälte unter Wasser gibt es nichts. Nur Dunkelheit. Stille. Wenn alles betäubt ist, das Herz nur noch schwach schlägt wie ein Glutfunken in meilenweiter Schwärze, das Blut immer zäher durch die Adern rinnt, dann wird man körperlos. Tod und Leben umschleichen sich, geduckt, gespannt wie zwei Raubkatzen, die engere und immer engere Kreise um ihre begehrte Beute ziehen. Die Zeit lässt einen von beiden gewinnen.

Der alte Mann hatte sich am Fluss zur Rast gelegt. Seit Einbruch der Dunkelheit war er umhergezogen und hatte die bekannten Schlafplätze abgesucht, doch die überdachten Hauseingänge, zugigen Kellerlöcher und Treppenhäuser waren in dieser kalten Nacht bereits besetzt. Der Winter war viel zu früh und viel zu plötzlich über die Bewohner der Stadt gekommen. Glücklicherweise kannte der Alte ein paar Geheimplätze. Es war zwar nicht sehr bequem hier unten am Ufer, auch wenn die Steine an dieser Stelle rund und flach waren, und das Rauschen der Wellen klang lange nicht so romantisch und einschläfernd, wie man sich das gerne vorstellte; doch unter der Brücke war es wenigstens trocken.

Der alte Mann hatte seine Decke ausgebreitet und rückte sein Bündel sorgfältig hin und her, um es als Kissen zu benutzen. Als er zufrieden war, zog er sich die Wollmütze tief in die Stirn, vergrub das Kinn im Schaltuch und mummelte sich in die zerlumpte Decke ein. Sein von wohliger Müdigkeit getrübter Blick schweifte über den Fluss... und blieb an einem Schatten im Wasser hängen, der immer näher trieb. Die dunklen Wellen schwappten über etwas hinweg, das wie Schultern und ein Rücken aussah.

»Aber das ist ja ...« Der alte Mann schob die Mütze zurück, rappelte sich aus seiner Decke auf und lief ans Ufer. Bis zu den Oberschenkeln musste er ins eiskalte Flusswasser steigen, um den reglosen Menschen zu fassen zu bekommen. Er zog ihn unter den Schultern hoch und hielt ihn ächzend vor sich, wie man ein junges Kätzchen hochhält. Wasser tropfte aus den Haaren und Kleidern des Jungen. Der alte Mann machte große Augen, als er ihn erkannte.

Er zog den Jungen ans Ufer und ließ sich neben ihm in den Schnee sinken. Behutsam öffnete er das Jackett des Jungen und erstarrte. Rote Rinnsale waren über die Brust gelaufen. Als der Alte seine Finger wieder hervorzog, waren sie blutig. Der Junge hatte eine Schusswunde in der Schulter.

Er legte ein Ohr an seine Brust und horchte. »Tot bist du noch nicht, Jorel. Halte durch.«

Der Alte stand auf und eilte zu seinem Schlafplatz zurück. Er schulterte sein Bündel, packte die Decke aber nicht ein, sondern kehrte mit ihr zu dem Jungen zurück und breitete sie neben ihm aus. Dann zog er ihm die nassen Kleider aus, die in der eisigen Luft zu dampfen begannen, und rollte ihn in die Decke, bis er darin steckte wie eine bleiche Motte in ihrem Kokon. Die nassen Kleider verstaute der Alte in seinem Bündel. Dass dabei ein Papier aus der Hose fiel, bemerkte er nicht. Dann hievte er den Jungen über die Schulter und stemmte sich hoch. Das zusätzliche Gewicht des Jungen schien ihn kein bisschen Kraft zu kosten.

»Jetzt gibt es wohl nur noch eine Möglichkeit«, murmelte der Alte, sah sich kurz um und brach auf. Mit wenigen Schritten hatte er das steile Steinufer hinter sich gebracht und lief im Eilschritt die Straße entlang. Die Sammlung der unzähligen Knöpfe verschiedenster Größe und Beschaffenheit begleitete seine Bewegungen mit einem zarten Klirren und Klappern. Leichtfüßig wie ein Wiesel bog der Alte in eine Seitengasse ab.

Als die Polizisten mit ihren Taschenlampen und Spürhunden den Fluss hinaufgehetzt kamen, war der alte Mann mit Tigwid bereits verschwunden. Der Bericht versank in den schwarzen, schweigenden Fluten.

Nachricht von Knebel

Das ist unfassbar! Unverantwortlich! Wenn der junge tot ist - wenn er tot ist... Seit wann schießen Polizisten auf Jugendliche, Herrgott noch mal!« Bassar fuhr sich mit den Händen über die Stirn, ohne sein unruhiges Auf-und-ab-Gehen zu unterbrechen. Dabei rempelte er gegen drei geschäftige Polizisten und stieß einen Stuhl zur Seite, der ihm in die Quere kam.