Выбрать главу

Betty Mebb blickte sorgenvoll von einem Aktenstapel auf. »Vor allem hat er noch den Bericht bei sich, von dem Sie gesprochen haben. - Ah, danke.« Die Kommissarin nahm einen weiteren Aktenstoß entgegen, den eine Kollegin ihr reichte.

»Ja«, murmelte Bassar, »ja, er hat den Bericht, das auch noch. So darf es nicht weitergehen. Die Polizei sollte den Bürgern ein Helfer sein, keine - keine Horde Schießwütiger, verdammt!« Er schlug sich mit der Faust in die Handfläche, dann lief er unruhig ans Fenster und spähte hinaus. Von den Männern, die auf die Suche nach dem Jungen gegangen waren, fehlte jede Spur. Bassar trommelte nervös mit den Fingern auf das Fensterbrett, steckte sich eine Zigarette in den Mund und balancierte sie zwischen den Lippen, ohne sie anzuzünden. Das Schicksal des Jungen machte ihm zu schaffen - es ergriff ihn sogar noch mehr als die Kinderleichen, auf die er in Eck Jargo gestoßen war. Ihr Fall war eine Tragödie gewesen, die die Polizei vielleicht hätte verhindern können, bei dem Jungen jedoch trug die Polizei direkte Schuld. Was Bassar am meisten Gewissensbisse bereitete, war die Tatsache, dass weder er noch seine Kollegen ihm Glauben geschenkt hatten, als der Junge von Motten und magischen Blutbüchern erzählt hatte. Und nun waren sie drauf und dran, Beweise für dieses irrsinnige Märchen zu finden.

Wahrscheinlich hatte der Junge genau das vorgehabt und war deshalb hier eingebrochen. Umso quälender war, dass er ausgerechnet den Kugeln der Polizei zum Opfer gefallen war.

Falls er das war, dachte Bassar hoffnungsvoll. Vielleicht hatten die Schüsse ihn nur verletzt. Aber selbst wenn die Kugeln daneben gegangen waren - der eisige Fluss würde jedem ein rasches Ende bescheren.

»Inspektor Bassar«, meldete sich Betty Mebb hinter ihm. Beamte streiften ihn und Papier raschelte. Akte für Akte wurden die Schränke durchforstet. Dieses Büro war genau die Art von Entdeckung, die Bassar sich nach der Auflösung von Eck Jargo erhofft hatte. Allerdings konnte er sich jetzt nicht darüber freuen.

»Sehen Sie mal, was ich gefunden habe, Inspektor.« Mebb kam neben ihn und schob ihm einen Papierbogen zu. Bassar überflog die ersten Zeilen.

»Ganz recht«, sagte Mebb eifrig. »Das ist der Bericht, der in dem Bericht erwähnt wurde, den der Junge hat: Hier steht, Elias Spiegelgold hat die Detektei angeheuert, um Nachforschungen anzustellen, warum sein Bruder, der Buchhändler Alois Spiegelgold, seinen Verstand verloren hat. Interessanterweise hat Alois Spiegelgold dem Bericht zufolge zuerst den Verstand verloren und dann das Feuer gelegt. Das heißt, es gab einen anderen, früheren Auslöser für den Verlust seiner Geisteskraft. Das bestätigt im Übrigen ja nur, was wir die ganze Zeit über angenommen haben.«

»Werden Beweise dafür genannt?«, fragte Bassar und blätterte den Bericht durch.

»Keine konkreten. Aber es wird erwähnt, dass Alois Spiegelgold sich wenige Tage zuvor strafbar gemacht haben soll, indem er ein wertvolles Artefakt gestohlen hat. Nämlich ein Buch. Das lässt darauf schließen, dass er zu diesem Zeitpunkt bereits verrückt war.«

»Und jenes Buch gehörte Morbus.«

Mebb nickte. »Das haben Sie aus dem Bericht, den der Junge mitgenommen hat.«

Bassar nahm die ungerauchte Zigarette aus dem Mund und strich sich fieberhaft mit der Hand über die Wangen. Ein Buch, das gestohlen und in aller Heimlichkeit zurückgeholt wurde, und ein plötzlicher Fall von Wahnsinn... Auf irgendeine verzwickte Weise hatte das alles mit der Geschichte über die Erinnerungsbücher zu tun, die der Junge und Apolonia Spiegelgold erzählt hatten. Hatten die beiden nicht gesagt, man verlöre seinen Verstand, wenn man ein solches Buch las, weil man es liebte wie einen echten Menschen... das Ganze war doch vollkommen abwegig.

»Wir müssen unbedingt etwas erledigen«, überlegte er leise.

»Und das wäre?« Mebb räusperte sich, und ihre Stimme nahm wieder die ausdruckslose Gelassenheit an, die ihr zu eigen war. »Egal was es ist, Inspektor. Sie sollen wissen, dass ich zu allem bereit bin.«

Bassar sah der Kommissarin in die von zarten Fältchen umgebenen Augen. Eine Weile erwiderte sie seinen Blick vielsagend, dann schienen ihre Worte sie zu beunruhigen und sie sah zur Seite. Bassar wandte sich rasch wieder dem Bericht zu und rollte ihn in den Händen zusammen. »Gut, danke, Kommissar Mebb. Mir ist Ihre außerordentliche Einsatzbereitschaft natürlich bekannt. Seit Sie bei uns arbeiten, und das ist eine lange Zeit, waren Sie ja immer sehr gewissenhaft.« Bassar hatte das unbestimmte Gefühl, etwas Falsches gesagt zu haben, und spähte zu Mebb herüber, die ihn zu seinem Entsetzen prüfend ansah. Nervös steckte er sich wieder die Zigarette in den Mund und vergrub die Hände in den Manteltaschen. Dann nahm er die rechte Hand doch wieder heraus, um nach dem Bericht zu greifen. »Wir müssen die kleine Spiegelgold endlich befragen.«

»Ich komme mit«, sagte Mebb und strich sich ihren perfekt sitzenden Mantel glatt.

»Perfekt. Ich meine, das finde ich schön. - Sie verstehen schon.« Eilig beschloss Bassar, seine Zigarette anzuzünden, bevor ihm noch mehr wirres Geplapper über die Lippen kam, und mit einem erleichterten Ausatmen versteckte er seine glühenden Wangen hinter einem Schleier aus Qualm.

Apolonia schlief. Seit ihrem Schwächeanfall war sie noch nicht wieder ganz zu Kräften gekommen - schließlich hatte sie nichts gegessen, außer der Hochzeitstorte natürlich. Von der waren nur noch ein paar Kuchenbodenbröckchen und Sahnekleckse übrig.

Nachdenklich sammelte Vampa die restlichen Krümel mit dem Zeigefinger auf und steckte sie sich zwischen die Lippen. Der Junge Gabriel lag noch immer auf seinem Schoß und Vampas Hand hatte sich um den Einband geschlossen.

Von allen Blutbüchern, die er im Verlauf der Jahre gefunden und gelesen hatte, war ihm Der Junge Gabriel am kostbarsten. Vielleicht weil darin pures, reines Glück gefangen stand. Vielleicht weil er Gabriel im echten Leben kennengelernt hatte. Weil er sich besonders gut mit ihm identifizieren konnte ...

Vampa senkte den Kopf, sodass er auf gleicher Höhe mit Apolonias Gesicht war. Sie schlief reglos und tief wie die verwunschenen Prinzessinnen aus den Märchen, die Vampa früher gelesen und die ihn vollkommen kaltgelassen hatten. Ihre dunklen Wimpern schimmerten rötlich im Licht der Petroleumlampe. Ein Kuchenkrümel klebte ihr an der Oberlippe.

Eigentlich hatte sie ihm den Rücken gekehrt, als sie eingeschlafen war. Nach einer Dreiviertelstunde aber, als Vampa ganz sicher gewesen war, dass sie schlief, hatte er vorsichtig ihren Kopf angehoben und sie zu sich umgedreht. Jetzt beobachtete er ihr Gesicht mit angehaltenem Atem. Sie grunzte leise im Schlaf.

Vampa verharrte eine Weile fasziniert mit schief gelegtem Kopf. Es war so seltsam... was in ihm war, war seltsam. Seit der Begegnung mit Tigwid war da diese merkwürdige, heiße Übelkeit, und in Apolonias Nähe drückte die Übelkeit ihm gegen die Innenwände seines Kopfes, dass ihm fast schwindelig wurde. Es konnte doch keine Krankheit sein, schließlich war die Übelkeit nicht verschwunden, als sein Haar zu bekannter Stunde nachgewachsen war.

Vampa hörte auf, darüber nachzudenken, denn Apolonias Anblick nahm ihn ganz ein. Was er sonst immer so belanglos an menschlichen Gesichtern gefunden hatte, wirkte bei ihr hypnotisierend: die weichen, glatten Härchen der Brauen, die doppelte Falte ihrer Lider, die bläulichen Schatten an ihrer Nasenwurzel, die zarte Vertiefung zwischen Nase und Oberlippe, die aussah, als hätte ein fallender Tropfen sie in die Haut gedrückt... das alles hatte eine äußerst ungewöhnliche Wirkung auf ihn, die er aber genoss; er genoss sie, bis sein Nacken starr wurde und zu schmerzen begann. Mit einem Blinzeln erhob er sich, strich gedankenverloren über den Buchdeckel und über seine Haare. Als er sein Taschenmesser zog, um die langen Locken abzuschneiden, zögerte er, in den Spiegel zu blicken. Das Gesicht, das ihn dort erwartete, war ihm zuwider. Schließlich klappte er Der Junge Gabriel auf und fuhr mit dem Finger die Konturen der feinen roten Zeichnung nach. Die runde Nase, die sanften Lippen, die wachen Augen unter den dunklen Brauen... Schon wieder diese Übelkeit! Und doch war sie ein wenig anders als die schwere Benommenheit, die ihn bei Apolonia überfiel. Ohne den Blick vom Bild zu wenden, nahm Vampa seine Haare in die Hand und schnitt sie kurz. Dann sammelte er die abgeschnittenen Locken auf und hielt sie in das Flämmchen der Petroleumlampe. Das Feuer zischte und der vertraute beißende Geruch breitete sich im Raum aus. Vampa atmete ihn tief ein wie in so vielen Nächten zuvor. Ihm stiegen davon Tränen in die Augen.