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Vampa schien nicht überzeugt, aber das musste natürlich nichts heißen. Apolonia wartete, bis er eine Antwort von sich gab. Als keine kam, setzte sie noch hinzu: »Überleg mal, was Tigwid machen würde. Wenn er unser Gespräch mitangehört hätte, würde er bestimmt sagen, dass er das Risiko einzugehen bereit ist, um die Dichter ans Messer zu liefern. Er würde erkennen, dass es unsere einzige Chance ist.« Damit drängte Apolonia sich an Vampa vorbei. »Komm. Wir wollen keine Zeit verschwenden. Je schneller wir diese missliche Sache aufklären, umso rascher können wir auch Tigwid aus dem Gefängnis holen.«

Sie tastete sich bereits durch die Finsternis des engen Kanalschachts und kletterte eine Leiter hinauf, während Vampa hinter ihr die Petroleumlampe löschte. Die Zeichnung von Tigwid kam ihr in den Sinn. Er sah sie mit einem vorwurfsvollen Blick an, empört und irgendwie verletzt. Reiß dich zusammen, dachte sie. Sie musste ihn noch dieses eine Mal ... es war ja nicht verraten! Ihre gemeinsame Rache ging vor. Apolonias Rache.

Während sie durch die verschneiten Straßen marschierten, schwiegen sie. Ihnen waren die Gesprächsthemen ausgegangen. Für Apolonia war Vampa nicht viel mehr als ein inhaltloser Körper und Vampas Verhalten widersprach dem in keiner Weise. Nur wenn er sie aus den Augenwinkeln beobachtete und Apolonia seinen Blick auf sich spürte, war sie sich nicht ganz sicher, was in ihm vorging.

Ob er ihr misstraute? Sie hatte ja zugegeben, eine Motte zu sein, und die Dichter waren schließlich auch Motten. Womöglich war das der Grund, weshalb er Der Junge Gabriel im Arm hielt und nicht aus der Hand gab, als sei es sein eigenes Herz.

Es war ein kühler Morgen, der Himmel hüllte sich in kränklich gelbe Schleier und über dem Fluss waberten dichte Nebel. Apolonia vergrub fröstelnd die Hände in den Manteltaschen. Eine ältere Dame kreuzte ihren Weg, warf erst Apolonia, dann Vampa und seiner bloßen Brust einen Blick zu und stieß ein missbilligendes Schnauben aus. Apolonia stolzierte erhobenen Hauptes an ihr vorbei, doch als sie um die nächste Straßenecke gebogen waren, sagte sie: »Du hättest dir wenigstens ein Hemd anziehen können. Das Haus meines Onkels befindet sich in einer Gegend, wo man für gewöhnlich nicht nackt durch den Schnee hüpft.«

Vampa schloss betreten den Mantel. »Soll ich mir ein Hemd besorgen?«

»Wie? Wenn du auf die Art meinst, auf die du vermutlich auch den Mantel da aufgegabelt hast, dann nein. Kriminalität ist bei dir offenbar an der Tagesordnung, aber ich bin noch ein ehrlicher Bürger.« Apolonia hatte verschnupfter geklungen als beabsichtigt, aber schließlich hatte sie allen Grund, gereizt zu sein. Sie war auf dem Weg zu Elias Spiegelgold, dem vernunftmäßigsten Menschen der Welt, um ihm eine Geschichte von Gabenträgern, Blutbüchern und Erinnerungsraub zu erzählen. Und in ihrem Schlepptau war ein halb nackter, unsterblicher Junge.

Was Trude sich wohl denken würde? Bestimmt erschrak sie, war erleichtert und völlig aus dem Häuschen. Apolonia lächelte beinahe. Sie hatte ihr Kindermädchen vermisst.

Bald tauchte der Park vor ihnen auf. Von hier aus war das Haus der Spiegelgolds nur noch fünf Gehminuten entfernt. Von Raureif und Eis verkrustete Bäume reckten sich über den Eisenzaun des Parks und überdachten den Bürgersteig mit gläsernen Zweigen. Weil der Winter dieses Jahr so plötzlich gekommen war, hatten die Buchen und Ahornbäume einen Großteil ihrer Blätter noch nicht verloren. Frost und Schneesterne hatten das Laubwerk mit einer glitzernden Schicht überzogen. Es sah so schön aus, dass Apolonia ihre Befürchtungen und Sorgen eine Weile vergaß und auf nichts anderes als die zauberhafte Umgebung achten konnte. Wenn ein leichter Wind aufkam, klirrten die Eiszapfen an den Bäumen und die gefrorenen Blätter wie hundert feine Glocken. Das Eis knirschte unter ihren Schritten, als liefen sie auf Spiegeln.

Auf einer Parkbank unter einem großen Holunderbusch lag ein Bettler und schlief. Vampa ging auf ihn zu und zerrte eine Zeitung unter dem Schlafenden hervor. Der Mann kullerte von der Bank, ein Haufen brauner Flaschen fiel mit und rollte klirrend über den Boden. Einen Moment sah es so aus, als würde er sich grunzend und schnaufend erheben, doch dann sank er zurück und schlief weiter.

»Was machst du da?« Apolonia war bereits neben Vampa getreten, um mit ihm auf die Titelseite der Zeitung zu spähen. Es war die heutige Ausgabe des Stadtspiegels, noch warm vom Druck - oder vom Hinterteil des Bettlers. Die Konterfeis mehrerer Männer nahmen die Seite ein, die sich alle ähnelten, ob das nun an ihrem einheitlichen Haarschnitt lag oder dem schlechten Druck. Darüber stand die Schlagzeile: DER PREIS FÜR ECK JARGO - WIE VIELE TOTE NOCH?

Unter den Fotografien stand in kleiner Kursivschrift: Mit der blutigen Eroberung von Eck Jargo vor zwei Tagen hat das Massensterben längst kein Ende genommen. Zu einem schockierenden Mord kam es gestern Vormittag, als ein Polizeibeamter vor einen Zug gestoßen wurde (S.3).

Apolonia schauderte. Ohne es zu merken, hatte sie Vampa die Zeitung aus der Hand genommen und schlug Seite drei auf. Das Foto eines hageren Mannes mit einem langen Hals und einer Haarsträhne in der Stirn war neben dem Artikel abgebildet, dessen Überschrift NEUER MORD AN POLIZISTEN lautete.

Apolonias Augen irrten über die Zeilen:

Nach der spektakulären Razzia in Eck Jargo am vergangenen Dienstag geriet nicht nur die Verbrecherwelt ins Zittern, auch die Polizei hat Verluste zu beklagen. Gestern Vormittag um elf Uhr vierzig musste die Polizei den siebzehnten Todesfall bekannt geben: Jakob Frall wurde bei der Verfolgung einer verbrecherischen Bande vor einen Zug gestoßen und starb noch am Tatort. Die Polizei fahndet jetzt nach einem Boxer, der bei Eck Jargos illegalen Kämpfen unter dem Namen »Vampa« auftrat und den Mord begangen haben soll, zusammen mit seiner Komplizin. Beide Täter sind zwischen fünfzehn und dreiundzwanzig Jahre alt und dunkelhaarig. Der Boxer trug zur Tatzeit einen schwarzen Mantel. Die Polizei bittet um sachdienliche Hinweise.

Apolonia stieß einen Schreckenslaut aus, als sie ihren Namen in der Überschrift des Artikels darunter entdeckte. Vampa zog die Seite höher, um mitlesen zu können.

MINDERJÄHRIGE SPIEGELGOLD VERSCHOLLEN

Vor drei Tagen ist die fünfzehnjährige Annemarie Spiegelgold, Tochter des Buchhändlers Alois Spiegelgold und Nichte des Staatsanwalts Elias Spiegelgold, spurlos verschwunden. Ob es sich um einen weiteren Fall in der Kette mysteriöser Kindesentführungen handelt, die Eltern seit Jahren um ihre Töchter und Söhne bangen lässt, ist noch unklar. Eine polizeiliche Suchaktion wurde bis jetzt nicht eingeleitet. Grund dafür ist eine Zeugenaussage, der zufolge das vermisste Mädchen in Eck Jargo gesichtet wurde, offenbar in Gesellschaft von Bekannten. Ob der jüngste Sprössling der einflussreichen Spiegelgold-Familie wie viele andere der prominenten Stammgäste von Eck Jargo (Erich Sanderlohn, Vorsitzender von BZG-Strom, und Stadtrat Joachim van Rilk) untergetaucht ist, bleibt abzuwarten. Staatsanwalt Elias Spiegelgold hat sich noch nicht zum Verschwinden seiner Nichte und ihrer Verbindung zu Eck Jargo geäußert. Annemarie Spiegelgold lebt seit dem Brand in der Spiegelgold-Buchhandlung im Hause ihres Onkels.

»Annemarie«, wiederholte Vampa langsam. »Die meinen dich.«