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Apolonia spürte erst jetzt, wie sehr sie zitterte. »Natürlich, du Genie! Die denken, dass ich - ich muss sofort - sofort nach Hause und ...«

Mit steifen Schritten ging sie los. Sie hatte das Gefühl, auf Stelzen zu laufen, und merkte kaum, wie sie über die leeren Flaschen auf dem Boden stolperte. Vampa folgte ihr und musste mächtig ausholen, denn Apolonia lief fast. Nur noch um die Straßenecke, vorbei am Park, dann war sie da ...

Sie bogen um die Ecke und waren kaum zwei Meter weit gekommen, da hielt Vampa sie am Arm fest. »Da ist die Polizei.«

»Was?«

Am Ende der Allee stand ihr Haus. Ein schwarzer Polizeiwagen parkte davor. Apolonia stockte der Atem. »Die Polizei!«

Die Haustür öffnete sich, und zwei Beamte traten heraus, eine Frau mit metallgrauem Haar und Inspektor Bassar. Er setzte seine Melone auf, als er sich noch einmal zu dem Dienstmädchen umdrehte, das ihnen geöffnet hatte. »Wenn sie wiederkommt, melden Sie sich bitte unverzüglich.«

Das Dienstmädchen nickte.

»Komm!« Vampa zog Apolonia hinter eine gefrorene Hecke, bevor die Polizisten die Haustreppe herunterkamen. Apolonia und Vampa beobachteten, wie die beiden in den Dienstwagen stiegen und losfuhren, bis sich das Brummen des Automobils in der Ferne verlor.

»O Gott.« Apolonia versuchte, sich klar zu werden, was passierte. Die Polizei war bei ihrem Onkel gewesen, um sie zu suchen. Sie galt als vermisst - nein, als untergetaucht. Mit Entsetzen starrte sie auf die zerknitterte Zeitung in ihren Händen. Der Inspektor brauchte den Artikel über ihrer Vermisstenanzeige nicht zu sehen, um eins und eins zusammenzuzählen und in ihr die Komplizin von Vampa zu erkennen. Deshalb war er hier gewesen. Sie war identifiziert worden. Die Blauröcke, die Tigwid festgenommen hatten, hatten ihr Gesicht gesehen - wahrscheinlich auch noch ihren Vornamen gehört -, und nun wurde sie des Mordes bezichtigt. Dabei kam ihr ein schrecklicher Gedanke: Was, wenn Tigwid den Polizisten gesagt hatte, wer sie war? Bestimmt hatten sie ihn ausgiebig verhört, und welchen Grund hatte er schon, Apolonia nicht zu verraten, wo doch sie ihn ...

Sie spürte, wie das unwiderstehliche Verlangen zu weinen in ihr aufstieg. Ja, weinen wollte sie, ganz egal ob es vernünftig war oder nicht! Sie wollte so lange Rotz und Wasser heulen, bis sie ganz leer war und kein Entsetzen und keine Panik mehr empfand.

Als sie das Gesicht in der zerknüllten Zeitung vergrub, berührte Vampa behutsam ihre Schulter.

»Mach dir keine Sorgen. Dein Onkel ist doch Anwalt, wenn er Tigwid verteidigt, kann er dich doch auch verteidigen.«

»Das ist etwas ganz anderes!« Apolonia erschrak fast vor sich selbst, so schrill hatte sie geklungen. »Tigwid und ich! Es ist alles zu spät ... Selbst wenn ich meine Unschuld irgendwie beweisen kann, diesen Ruf werde ich nie wieder los. Apolonia Spiegelgold, die Mörderin. Ich wette, die ganze Gesellschaft zerreißt sich schon das Maul! Die Mutter tot, der Vater irre, die Tochter kriminell - das passt ja alles vorzüglich! Mein Onkel wirft mich raus, der wird leugnen, dass er je etwas mit mir zu tun hatte. Jetzt wo ich seinen weiteren Aufstieg gefährden könnte.« Apolonia stieß mit der Fußspitze gegen den Kies und zog geräuschvoll die Nase hoch. Als Vampa hinter sie trat, wandte sie das Gesicht ab.

»Ich ...«

»Du musst nichts sagen, Vampa. Du verstehst das sowieso nicht. Du hast keine Sorgen, oder? Keine Angst, keine Zweifel, kein Garnichts? Du kannst dich glücklich schätzen, weißt du das?«

»Kann ich nicht«, sagte Vampa und runzelte die Stirn. »Ich fühl gar nichts. Auch kein Glück.«

Apolonia atmete tief durch. Gesucht von der Polizei... Jetzt blieb ihr nichts anderes übrig, als das Leben einer Geächteten zu führen. Selbst wenn sie sich irgendwie aus dem ganzen Schlamassel befreien konnte, ihre Glaubwürdigkeit, ihre Stellung in der Gesellschaft waren für immer dahin.

Ihr Kinn begann zu beben. Während sie des Mordes verdächtigt wurde, stahlen Morbus und seine Dichter weiterhin unbehelligt Erinnerungen! Sie hatte nichts bewirkt, nur dass die Welt noch ungerechter geworden war. Je mehr man dagegen ankämpfte, umso schlimmer wurde es.

Am liebsten wäre sie weggerannt. Irgendwohin, weg von allem... Was scherten sie die Verbrechen der Dichter? Was ihr angetan worden war, konnte man sowieso nicht ungeschehen machen. Sie sollte die Vergangenheit ruhen lassen. Ihre Mutter war ermordet worden. Punkt. Es war zu spät, es wiedergutzumachen. Sie sollte fortgehen, vielleicht Trude mitnehmen ... irgendwo ein neues Leben anfangen.

Ihr wurde schmerzhaft klar, dass das ein naiver Traum war. Sie hatte keine Eltern, kein Zuhause. Keinen einzigen Freund. Ganz zu schweigen von der katastrophalen finanziellen Lage, in die ihr Vater sie gestürzt hatte. Sie war so hilflos, wie eine von Gesetz und Verbrechern gesuchte Halbwaise nur sein konnte.

Während Apolonia mit den Tränen kämpfte, scharrte sie weiter mit dem Fuß im Kies und drosch mit der Schuhspitze auf die Steinchen ein, als sei das ganze Elend ihre Schuld.

Dicht hinter sich hörte sie Vampa atmen, er machte einen Anlauf zu sprechen und verstummte wieder. Was wollte er denn jetzt noch von ihr? Apolonia merkte, wie seine bloße Anwesenheit sie reizte, dabei war er ja der letzte Mensch, dem sie noch mehr oder weniger vertrauen konnte. Ohne ihn war sie vollkommen verlassen. Aber mit ihm fühlte sie sich auch nicht sonderlich gestärkt.

»Apolonia?« Er sprach ganz leise, als koste es ihn Mühe.

Sie schloss kurz die Augen. Vampa konnte nichts dafür, dass alles schiefging. »Ja?«

Weil er nichts mehr sagte, wandte Apolonia sich ihm zu, um den Grund für sein Rumdrucksen zu finden. Er sah sie ernst und nachdenklich an, sofern man das an seinem Gesicht ablesen konnte.

»Was ist denn?« Sie wartete, dass er etwas sagte. Aber es schien eine Angewohnheit von ihm zu sein, den Mund nicht aufzukriegen.

»Was willst du? Was?«, schnappte Apolonia. »Guck mich nicht so belämmert an!« Ihr kurzer Wutausbruch schlug augenblicklich in Verzweiflung um. »Lass mich doch in Ruhe. Mein Leben ist zu Ende und du gaffst mich an wie eine Giraffe im Zoo!« Mit einem zittrigen Atemzug drückte sie sich Daumen und Zeigefinger gegen die Nasenwurzel.

»Tut mir leid, Poli«, hauchte Vampa. Ein Zucken ging um seine Mundwinkel, fast wie ein Lächeln sah es aus, und mit großen, offenen Augen blickte er sie an.

Apolonia schielte zu ihm auf und konnte es nicht fassen. Der Kerl hatte nicht nur keine Gefühle, er wusste auch nicht, wie man mit den Gefühlen anderer Menschen umging.

»Provozier mich nicht mit deinen Stielaugen, und wenn du mich noch einmal Poli nennst...« Sie verstummte verdutzt. Während sie sprach, hatte Vampa nervös die Lippen gespitzt und zu einer Seite verzogen. Genau wie Tigwid.

»Was war das?«

»Was?«

»Das, das, das mit deinem Mund! Das ist doch Tigwids komischer Tick. Du kopierst ihn. Du kopierst Tigwid.« Ihr Blick wanderte verwirrt zu dem Blutbuch, das Vampa noch immer im Arm hielt. »Gib mir das Buch«, befahl Apolonia leise.

Vampa wich zurück.

Sie streckte die Hand aus. »Gib her!«

Plötzlich knackte ein Ast hinter ihr. Das Bild einer geknebelten Frau blitzte in ihren Gedanken auf. Sie drehte sich um und sah, wie ein Marder aus den Büschen sprang. Überrascht sandte sie Knebel ihr Bild zur Begrüßung, dann stopfte sie sich die zerknüllte Zeitung in die Manteltasche und kniete nieder. Der Marder strich unter ihren Händen hindurch, und Apolonia erkannte, dass Knebel einen kleinen, eingerollten Brief an einer Schnur um den Hals trug.

Wer hat das da hingehängt?

Knebels Schnurrbarthaare zitterten, als er Vampa sah. Doch der Junge kam nicht näher, weshalb auch Knebel es bei einem Fauchen beließ.

Ein Geruch.

Apolonia schüttelte den Kopf. »Ich kann doch nicht riechen wie du, es bringt mir also gar nichts, wenn du mir den Geruch der Person schickst.«