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Sie trug ein hauchdünnes blutrotes Chiffonkleid, das entweder Unterwäsche oder sehr gewagt war. Ihr dunkelblondes Haar war im Nacken zu einem eleganten Knoten gesteckt und auf ihrem katzenhaften Gesicht lag eine Mischung aus Sorge und Erleichterung. Wenn sie tatsächlich von den Dichtern entführt worden und das Ganze eine Falle war, hatte man Nevera zumindest genug Zeit gelassen, sich herauszuputzen. Sie breitete die Arme aus und schwebte durch das Zimmer auf Apolonia zu, während ihr Zigarettenrauch aus dem Mund waberte. Apolonia hörte, wie der Diener diskret die Tür schloss.

»Meine Liebe!« Mit einer Hand, zwischen deren Zeigeund Mittelfinger der Zigarettenhalter klemmte, strich Nevera ihr über die Wange und umarmte sie zart. Dann wanderte ihr Blick zu Vampa. Ihre perfekt geschminkten Augen glänzten verstört.

»Ich... ich bin, bin froh, dass du so heil hier...« Nevera verstummte, als sie sich nicht von Vampas Gesicht losreißen konnte. Sie schluckte hörbar.

»Guten Tag, Nevera«, sagte Apolonia. »Darf ich vorstellen, das ist Vampa. Hoffentlich stört es Sie nicht, dass ich ihn mitgebracht habe.«

Nevera rang um ein Lächeln. »Durchaus nicht.« Sie zog an ihrer Zigarettenspitze und verbarg ihr Gesicht einen Moment lang hinter einer Rauchwolke.

»So kommt - setzt euch! Ich habe leider nur Frühstück für dich anrichten lassen, Apolonia, ich werde gleich nach einem Teller und einer Tasse für unseren Gast schicken.« Sie tänzelte zu einem ovalen Tisch, den mit grünem Samt bezogene Sofas umstellten. Brötchen, Toast und Croissants standen mit Marmelade, Honig und verschiedenen Käsesorten bereit, dazu gab es Rührei und Tee, Milch und duftenden Kaffee.

Nevera ließ sich auf einem der Sofas nieder und klingelte mit einem Glöckchen. »O bitte, nehmt Platz, setzt euch!« Sie wies mit ihrer Zigarette auf die umstehenden Sofas und Apolonia und Vampa setzten sich nebeneinander. Kaum hatte Nevera das Glöckchen wieder auf den Tisch gestellt, öffnete sich eine Nebentür, und ein Diener erschien. »Frau Spiegelgold?«

»Bring noch Teller und Tasse für eine dritte Person.«

»Wie Sie wünschen.« Er verschwand geräuschlos.

Nevera kämpfte offensichtlich gegen den Drang an, Vampa offen anzustarren. Verkrampft lächelte sie Apolonia an und befühlte den freizügigen Ausschnitt ihres Kleides. »So, und nun, nun erzähle mir, meine Liebe - erzähle mir alles und wie dir diese schrecklichen Dinge zustoßen konnten.« Bevor Apolonia den Mund auch nur öffnen konnte, seufzte Nevera weiter: »Ich habe mich so gesorgt, meine Liebe! Wenn du wüsstest, was für ein Schock es war, die Polizei zu empfangen, nachdem du verschwunden warst! Wieso bist du eigentlich verschwunden? Aber nein - mach dir keine Sorgen, ich bin dir nicht böse. Gewiss hattest du deine Gründe und du kannst sie mir anvertrauen. Ich höre dir zu. Es hat mich nur alles sehr mitgenommen, dein leeres Zimmer, dein verzweifeltes Kindermädchen, die Angst um dich ...« Nevera schloss ergriffen die Augen.

»Es war auch für mich ein Schock«, erwiderte Apolonia, während sie daran dachte, was sie alles erlebt hatte. Doch in Neveras unbeschwerter Gegenwart, zwischen Samtkissen und frischen Brötchen, begannen all die Strapazen zu verblassen... War sie wirklich vor zwei Tagen noch durch die düstersten Winkel von Eck Jargo geflüchtet? Jetzt wo sie ein wenig Zeit hatte, darüber nachzudenken, konnte sie kaum fassen, in welcher Gefahr sie geschwebt hatte. Das hieß - in der größten schwebte sie noch.

»Wenn es Ihnen nichts ausmacht, Tante, darf ich Ihnen zuerst einige Fragen stellen?«

Nevera drückte ihre Zigarette in einem Aschenbecher aus, zog eine neue aus einem Silberetui und steckte sie in ihren schwarzen Halter. »Aber gewiss, meine Liebe. Wir haben viel zu besprechen und dafür alle Zeit der Welt.«

Apolonia wollte nach dem Brief greifen, als ihr einfiel, dass sie ihren Mantel ja abgegeben hatte. Ärgerlich über sich selbst, zog sie die Hand zurück. »Erst einmal der Brief. Wie haben Sie das geschafft?« Ihre eigentliche Frage war, ob die Dichter sie dazu gezwungen hatten - doch Neveras Gelassenheit ließ die Furcht vor einer Falle mehr und mehr schwinden.

Nevera zündete ihre Zigarette an. Der Rauch umschmiegte ihr hohlwangiges Gesicht. In diesem Moment öffnete sich die Tür und der Diener von eben erschien mit Geschirr für Vampa. Er deckte den Tisch und faltete die Serviette mit so viel Sorgfalt zu einem stehenden Dreieck, dass Apolonia ihm am liebsten auf die Finger geschlagen hätte. Dann deutete er endlich eine Verneigung an und fragte: »Haben Sie noch einen Wunsch, Madame?«

Nevera wies auf Apolonia. »Was möchtest du trinken, Apolonia?«

Apolonia wollte bloß, dass der Diener verschwand und sie ihr eigentliches Gespräch weiterführen konnten. »Schwarzer Tee, drei Teelöffel Milch, den Honig gebe ich selbst dazu. Danke.« Sie bedeutete dem Diener, dass er genug in ihre Tasse geschenkt hatte.

»Der junge Herr?«, fragte der Diener.

Vampa nickte bloß.

»Wünschen Sie dasselbe?«

Vampa räusperte sich leise. »Ja. Tee.«

Apolonia betrachtete ihre schmutzigen Fingernägel, während der Diener auch ihm Tee einschenkte. Dann schaute sie zu Nevera. Ihre Tante beobachtete Vampa mit einem unergründlichen Ausdruck. Kurz überfiel Apolonia Scham, als sie an Vampas unmöglichen Aufzug dachte, doch ein Gefühl verriet ihr, dass das nicht der Grund für Neveras starren Blick war.

»Du kannst gehen«, sagte Nevera und winkte den Bediensteten fort. Als die Tür ins Schloss fiel, wiederholte Apolonia ihre Frage: »Wie konnten Sie dem Marder den Brief geben?« Es so klar auszusprechen, bereitete ihr fast eine Gänsehaut. Natürlich gab es nur eine Antwort - und die kannte sie genauso gut wie ihre Tante.

»Apolonia... süße Apolonia. Wir sind eine Familie, nicht wahr? Ich bin die kleine Schwester deiner Mutter ... verstehst du?«

Apolonia nickte erwartungsvoll. Ein Kloß stieg ihr in den Hals.

»Natürlich war ich der schönen Magdalena schon immer unterlegen, was all unsere Begabungen betraf. Und doch - du siehst, ich habe es geschafft, dir meinen Brief zukommen zu lassen.«

»Das heißt ... Sie können das auch ... wie ich? Mit den Tieren?«

Ein merkwürdiges Leuchten glitt durch Neveras stahlblaue Augen. »Oh, ich maße mir nicht an, meine Fähigkeiten mit den deinen zu vergleichen. Du hast Magdalenas Talent geerbt. Auf mich hat es nur abgefärbt, so wie ein unbedeutendes Geschöpf im Licht des Mondes selbst überirdisch scheinen mag.«

Apolonia schwieg, da die Wahrheit sie sprachlos machte. Nevera... ausgerechnet ihre Tante war die ganze Zeit eine Motte gewesen und sie hatte es nicht bemerkt. Endlich bekam sie heraus: »Sie wussten, dass ich es konnte? Seit wann?«

Nevera zupfte einen imaginären Tabakkrümel von ihrer Unterlippe. »Ich ahnte es die ganze Zeit. Ein Talent, wie Magdalena es hatte, geht über eine Generation schließlich nicht verloren. Genau weiß ich es natürlich erst seit diesem Augenblick. So wie du von mir.«

»Wieso haben Sie es für sich behalten?«, fragte Apolonia verwirrt.

»Hast du denn die deinen nicht ebenfalls für dich behalten? Das ist unser Los, Apolonia. Das weißt du.« Ihre Stimme war längst nicht mehr so honigsüß und hauchend wie sonst. »Hat dir schon einmal jemand gesagt, wieso man Menschen wie uns Motten nennt?«

Apolonia zuckte kaum merklich zusammen, als Nevera das Wort aussprach. Es klang unwirklich, Motten aus Neveras Mund zu hören. Nie hatte jemand außer ihr in einem ernsthaften Gespräch Motten erwähnt. »Ich weiß es nicht.«

»Natürlich nicht, wer sollte auch mit dir darüber sprechen? Du hast ja selbst bis jetzt nicht geglaubt, dass du eine Motte bist.« Sie wich Apolonias misstrauischem Blick aus und tat einen weiteren Zug. Anmutig legte sie einen Arm über die Sofalehne und schlug die Beine übereinander. Ihre Augen fixierten irgendeinen fernen Punkt hinter Apolonia. »Wir, Apolonia, du und ich und unseresgleichen - wir flattern durch den Lärm der schreienden Menschen, passen uns an, sind unentdeckt und unscheinbar, so wie Motten ... Natürlich gibt es noch einen anderen Grund, wieso sich unser Name bei dem einfachen Volk eingebürgert hat. Schmetterlinge, im Griechischen Psyche genannt, symbolisieren seit jeher die Seele und die Verbindung zwischen dem Menschen und allem Göttlichen. Für die Leute sind wir genau das Gegenteil, Motten, die schwarzen Zwillinge des Schmetterlings, die Wesen der Nacht; unsere Gaben verkörpern die Verbindung zwischen Mensch und Teufel. Natürlich ist das völliger Schwachsinn ... Willst du etwas essen, meine Liebe?« Sie schob ihr den Korb mit den Brötchen und Croissants zu.