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Apolonia nahm sich ein Mohnbrötchen und strich mechanisch Himbeermarmelade darauf, dann machte sie einen viel zu großen Bissen und schluckte überhastet hinunter. Vampa nahm sich nichts - die Tatsache, dass er sie nicht nachahmte, überraschte Apolonia schon fast. Sie warf ihm einen Seitenblick zu und erkannte, dass er gebannt Nevera anstarrte.

»Apolonia?«, fragte Nevera sanft. »Möchtest du mir jetzt vielleicht erzählen, was in den vergangenen Tagen geschehen ist? Ich weiß nur das, was die Polizei mir gesagt hat und was ich in den Zeitungen lesen konnte. Demnach gehe ich davon aus, dass Vampa ... der Boxer aus Eck Jargo ist?« Sie runzelte zögernd die Stirn.

Apolonia legte das Brötchen auf ihren Teller und schluckte. »Wie Sie gesagt haben, wir sind eine Familie. Und ich kann auf Ihre Hilfe zählen, nicht wahr, Tante? Wo wir beide doch dasselbe wissen und können?«

Nevera nickte. »Du musst mir nichts verheimlichen, meine Liebe.«

Apolonia holte tief Luft. »Tante, ich werde verfolgt. Man will mich umbringen oder noch Schlimmeres, fürchte ich.«

Nevera beobachtete sie reglos. Der Rauch ihrer Zigarette stieg in wabernden Fäden an ihrem Gesicht empor.

Apolonia fuhr unbeirrt fort und versuchte, so sachlich und verständlich wie möglich zu erklären. »Die Leute, die mich verfolgen, nennen sich Dichter, und es sind... sie sind Motten. Sie sind Verbrecher. Sie sperren Menschen mithilfe ihrer Gaben in Bücher, um die schönsten, wahrsten Geschichten der Welt zu erschaffen. Sie machen vor nichts und niemandem halt, Tante. Vampa ist eines ihrer Opfer.« Apolonia war leiser geworden, doch ihr Blick erwiderte Neveras fest. »Er hat keine Vergangenheit und kann nicht sterben. Die Dichter haben ihm alles genommen, seine Erinnerungen und seine Gefühle. Sie haben es auch bei mir versucht. Ihr Meister, Jonathan Morbus, wollte mir die Erinnerungen an Magdalena nehmen. Ich weiß nicht, wieso, aber sie wollten, dass ich eine von ihnen werde, und hätten mich dabei fast umgebracht. Ich brauche Ihre Hilfe, Nevera - nicht nur um dieses entsetzliche Missverständnis mit dem toten Polizisten aufzuklären. Sie müssen mir helfen, die Dichter anzuzeigen. Weil Sie wissen, dass es Motten gibt, und es bezeugen können. Ich schwebe in Lebensgefahr, solange Morbus auf freiem Fuß ist. Außerdem... Ich bin mir sicher, dass sie Magdalena ermordet haben. Die Dichter sind ihre Mörder.« Apolonia hatte die Fäuste im Schoß geballt. Nevera schwieg.

»Glauben Sie mir?« Apolonias Stimme zitterte. »Helfen Sie mir, Nevera? Es ... es geht um mein Leben.« Sie schluckte, ihr Hals war schrecklich trocken. »Und es geht um meine Mutter. Ihre Schwester.«

Nevera zog an ihrer Zigarette und tippte die Asche in den Aschenbecher. »Wieso wollten diese Dichter, dass du dich ihnen anschließt?«

Apolonias Herz pochte schnell und schwer, sie spürte jeden Schlag dumpf in der Brust. »Ich...« Sie räusperte sich mühsam. »Sie sagten, meine Gaben seien unentbehrlich für sie.«

Nevera deutete auf Apolonias Tasse. »Nimm einen Schluck, meine Liebe, für deine Kehle.«

Apolonias Finger schlossen sich zitternd um den Griff, und sie führte die Tasse an den Mund, ohne sich fähig zu fühlen, einen Schluck zu nehmen.

»Du musst keine Angst haben«, sagte Nevera, mit einer Stimme, die nichts mehr von dem süßen Ton von früher hatte. »Ich werde gut auf dich aufpassen, und niemand wird dir Schaden zufügen, solange du in meiner Obhut bist. Schließlich bist du meine Nichte. Und ich bin die Schwester deiner Mutter ... und schließlich sind deine Gaben unentbehrlich für uns.«

Apolonia würgte, als ihr der heiße Tee die Kehle hinabrann. Sie stellte die Tasse leise klirrend ab und griff nach der Serviette. Ohne Nevera ansehen zu können, presste sie sich den Stoff auf die bebenden Lippen.

Nevera blies den Qualm zur Seite und beobachtete seinen trägen Tanz in der Luft. »Du hattest recht, Apolonia, von Anfang an. Es gibt einen verbrecherischen Mottenbund. Ihr einziges Ziel ist es, dich zu finden. Und zu töten. So wie deine Mutter.«

Apolonia schwindelte. Ihr Magen zog sich zusammen, sie rang nach Atem. Ihr Blick fiel auf die Serviette, um die sich ihre verkrampften Finger geschlossen hatten. Zwei blutrote Buchstaben waren eingestickt. Die Initialen des Hausherrn.

J. M.

Das Zweite Buch

Gut und Böse

Der Himmel hüllte sich in rosafarbene und goldgelbe Wolkenschleiern, die in sanften Wirbeln bis zum Horizont liefen. Vor ihm erstreckte sich ein endloses Feld von Wildblumen: Blutroter Klatschmohn und schulterhohe Veilchen, riesenhafte Orchideen und Wasserlilien wisperten in der warmen Brise. Tigwid hielt vor Staunen den Atem an. Er streckte die Hände aus und berührte die Blüten mit den Fingerspitzen. Eine Sonne, die von überall und nirgends strahlte, küsste sein Gesicht und tauchte ihn in herrlich süße Wärme.

Tigwid ...

Erst als er ihre Stimme hörte, wurde ihm bewusst, wer er war - Tigwid, natürlich! War er je ein Bandit namens Jorel gewesen oder der Waisenjunge Gabriel, so schien es ein ganzes Leben hinter ihm zu liegen. Er war Tigwid, nur noch Tigwid. Er war, was auch immer sie ihn nannte.

»Apolonia?«, flüsterte er in die tiefen bunten Wiesen. Das Gras rauschte lauter. Er war sich nicht sicher, ob er darin eine Stimme hörte, ihre Stimme, die seinen Namen hauchte, als atmete sie den Klang. Er drehte sich. Die Gräser schienen höher geworden zu sein, er sah kaum mehr den Horizont. Ein aufbrausender Wind heulte durch die Felder und bog die Mohnblumen.

»Apolonia? Bist du da?« Er blinzelte. Das Licht war plötzlich verschwommen, die rauschenden Blumen zerliefen ineinander. Gleißende Streifen aus Farbe und Dunkelheit spülten an ihm vorbei.

Tigwid!

Die Stimme war ein dumpfes Fauchen, das den Boden vibrieren ließ. Wie auf ein unsichtbares Zeichen hin brüllte der Wind aus jeder Richtung, die Gräser blähten sich auf und grelle Farbtentakel sprossen in die Höhe. Aus der Erde kroch tiefes, sattes Tintenschwarz empor und verfinsterte das farbenfrohe Feld. Irgendetwas tanzte durch die Luft... Es sah aus wie Ascheflocken... Tigwid spürte, dass er sank. Er riss erschrocken den Mund auf, konnte aber nicht schreien. Die Finsternis fasste nach seinen Schultern und er spürte einen gleißenden Schmerz irgendwo am Oberkörper. Dann war alles dunkel.

Er lag oder stand oder schwebte, genau konnte er es nicht sagen. Ein rasselndes Geräusch näherte sich ihm. Es schwoll an, wurde lauter, kam von überall - es war das Geräusch schlagender Flügel und zischender, schnarrender, quietschender Insekten. Die Dunkelheit rings um Tigwid war gar keine Dunkelheit. Es waren Tausende und Abertausende flatternder Motten. Und nun spürte Tigwid, dass er selbst eine von ihnen war.

Seine schuppigen schwarzen Flügel schlugen schnell und heftig und bereiteten ihm brennende Schmerzen in der Schulter. Irgendwo hier war Apolonia. Doch wie konnte er sie finden? Es gab ja kein Licht!