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»Apolonia!« Er schrie und hörte sich selbst kaum. »Das Licht! Finde Licht! Du bist blind in dieser Schwärze!«

Das Gezischel und Geflatter war ohrenbetäubend. Fremde Flügel streiften und schlugen ihn und das Grauen überkam ihn in einer Welle von Übelkeit.

»Aufhören! Bitte...« Er wimmerte kläglich und gab das panische Flattern auf. Er stürzte und taumelte durch das Gedränge, fiel immer tiefer, wurde geschubst und niedergedrückt. Zuletzt landete er hart auf der schwarzen Erde. Sein zerbrechlicher Körper zitterte. Die Geräusche der Motten verschwammen... Nichts blieb mehr, Tigwid lag in stille Nacht gehüllt da wie in einem dichten Kokon. So schlief er Jahrhunderte... Wenn er erwachte, was würde er werden? Ein dunkler Nachtfalter? Ein Schmetterling?

Aus weiter Ferne und doch ganz nah erreichten ihn fremde, vertraute Stimmen.

»Hörst du, er spricht im Fieber.«

»Habt ihr Erasmus Bescheid gesagt, dass er hier ist?«

»Er ist schon auf dem Weg.«

»Glaubst du, wir können das Mädchen finden, bevor es zu spät ist?«

»Wenn der Junge wieder zu sich kommt, hoffentlich. Ganz ruhig, Mart.«

»Was meinst du, wird er überleben?«

»Ich glaube, ja.«

Apolonia starrte die Initialen auf der Serviette an. Morbus. Jonathan Morbus war der Graf von Caer Therin. Und Nevera ...

Ihre Tante inhalierte tief den Zigarettenqualm, ohne sie aus den Augen zu lassen. »Schätzchen, du bist aschfahl. Stimmt etwas nicht?«

»Morbus.« Ihre Stimme versagte, man hatte das Wort kaum gehört. »Morbus und die Dichter, Nevera ...«

»Beunruhigt dich das, meine Liebe? Dass ich die Dichter befehle?« Nevera flüsterte das letzte Wort.

Apolonia ließ die Serviette fallen, schoss auf die Füße und stand wie versteinert da. Sie wäre weggerannt, hätte sie gewusst, wohin. Doch es gab keinen Ort, an den sie hätte flüchten können. Es gab keinen Menschen, der ihr helfen würde.

»Wieso? Warum ausgerechnet Sie? Nachdem ...« Ihr wurde speiübel. »Sie haben meine Mutter auf dem Gewissen, Ihre eigene Schwester!«

Nevera stieß ein leises Geräusch aus, halb Schnauben, halb Seufzen. »Sei nicht albern, Apolonia. Ich bin ihre Schwester, wie du schon gesagt hast, und ich bin deine Tante. Glaubst du ernsthaft, ich wäre eines Mordes fähig? Wenn ich nicht um deinen momentanen Zustand wüsste, könnte ich glatt gekränkt sein.«

Apolonia kniff die Augen zusammen. »Aber Sie gehören zu den Dichtern, Sie haben es selbst gesagt! Und die Dichter ...«

»... wollen dich retten!«, sagte Nevera scharf und drückte ihre Zigarette aus. »Setz dich, Apolonia. Du weißt nicht, was du redest. Ich kann es dir natürlich nicht verdenken, schließlich hat dir niemand die Wahrheit gesagt. Aber nachdem du Jonathan bereits näher kennengelernt hast, solltest du ihm gegenüber nicht so voreingenommen sein.« Nevera drückte sich Zeigefinger und Daumen gegen die Nasenwurzel. »Das heißt - ich weiß ja nicht, wie er sich in seiner Verzweiflung verhalten hat. Womöglich hat dich die Wahrheit so sehr erschreckt, dass du irgendwie ... ihn dafür verantwortlich gemacht hast! Jedenfalls hast du ihn ganz und gar falsch verstanden.«

Apolonia begriff überhaupt nichts mehr. Welche Wahrheit? Was sollte das bedeuten, »in seiner Verzweiflung«?

»Ich denke«, sagte sie schwer atmend, »es gibt nichts falsch zu verstehen, wenn man entführt, bedroht und fast umgebracht wird! Dieser - dieser Mann, von dem Sie sprechen, als wäre er ein Freund, wollte mich mit seinen Mottengaben manipulieren und die Erinnerungen an meine Mutter stehlen!« Sie konnte es nicht fassen. Nevera stritt einfach ab, dass die Dichter Verbrecher waren! »Und abgesehen von dem, was die Dichter mir antun wollten - was ist mit Vampa und all ihren anderen Opfern?« Dabei zog sie Vampa neben sich, teils um Neveras Augenmerk auf ihn zu lenken, teils um sich an seinem Arm festhalten zu können, denn sie fühlte sich, als würden ihr gleich die Knie nachgeben.

Neveras Blick war eisig auf Vampa geheftet. Es schien, als lodere ein verborgener Hass in ihr auf, der allein ihm galt.

»Du musst noch so viel von uns erfahren«, sagte Nevera leise. »Wir Dichter sind Motten, ja, aber wir sind nicht die Einzigen - ist dir das noch nicht in den Sinn gekommen? Es gibt uns Dichter ... und es gibt die Verbrecher, nach denen du suchst. Nach denen wir suchen. Du musst wissen, wir Dichter haben uns einer noblen Sache verschrieben. Wir wollen das volle Potenzial unserer Gaben ausschöpfen und damit der Menschheit dienen. Denn wir erkennen das Licht unter all den blinden Menschen, wir sind es, die die wahre Schönheit und die schöne Wahrheit sehen können. Wir sehen das Licht in jedem Menschen, Apolonia. Die Schönheit, die keiner Worte bedarf und in keine Sprache gefasst werden kann. Und wir wollen der Menschheit die Sicht auf ihre eigene Schönheit schenken, auf dass die Liebe sich nicht mehr auf das eigene Herz beschränken muss. Verstehst du das? Wir ermöglichen die einzig wahre Kommunikation, mit der man echte Gefühle und Empfindungen teilen kann. Nur so kann die Menschheit ihre Selbstsucht überwinden. Und lernen zu lieben.«

»Und diese Schönheit, von der Sie sprechen, die schenken Sie den Menschen auf ihre eigenen Kosten, ja? Oder wie wollen Sie sonst rechtfertigen, was Vampa zugestoßen ist? Kein Blutbuch der Welt kann den Wert eines Menschen aufwiegen!«

Nevera neigte interessiert den Kopf. »Jonathan wird sich gewiss freuen, mit dir darüber zu debattieren. Schriftsteller, musst du wissen, lieben es, sich in Fragen über den Wert eines Menschenlebens, die Verwurzelung von Eigennutz in unserer Natur und solcherlei philosophischem Geschwätz zu ergehen.«

Als Apolonia keine Miene verzog, nahm Nevera den Arm vom Sofarücken und faltete die Hände. »Ich weiß, was du meinst. Natürlich wäre es eine große Sünde, unschuldige Menschen aus reinem Forschungsgeist oder Liebe zur Kunst in Blutbücher zu sperren.«

»Wollen Sie etwa abstreiten, dass Sie es tun? Morbus hat es längst zugegeben!«

Nevera lächelte zögerlich, ihre Zähne schimmerten hell zwischen den roten Lippen. »Und mehr hat Jonathan wohl nicht gesagt über den Sinn der Blutbücher? - Natürlich. Das Wichtigste heben Schriftsteller sich immer für den Schluss auf, nicht wahr?«

»Ach, es wird noch besser?«, erwiderte Apolonia mit einem Zynismus, der ausschließlich das Ergebnis ihrer Verzweiflung war - sozusagen ein letztes geistiges Trostgeschenk vor dem Ende.

»Schluss damit«, sagte Nevera. »Verspotte uns meinetwegen, wenn du alles weißt - aber davor erwarte ich, dass du mich anhörst. Das habe ich als Retterin deines Lebens wohl verdient.« Ohne auf Letzteres einzugehen, fuhr Nevera fort: »Ich weiß, dass du es dir zum Ziel gesetzt hast, die Mörder deiner Mutter zu finden und sie bezahlen zu lassen. Nun, ich kann dich enttäuschen und ermutigen: enttäuschen, weil wir Dichter dir bereits zuvorgekommen sind, und ermutigen, weil es noch viel für die Gerechtigkeit zu tun gibt. Und ich will dir auch sagen, weshalb wir die Blutbücher überhaupt schreiben - wir tun es nicht aus Spaß und Böswilligkeit, wie du wahrscheinlich denkst, wir tun es nicht, weil wir verrückt sind oder schlichtweg, weil wir es können. Nein. Die Blutbücher sind die einzige Möglichkeit, unsere Feinde unschädlich zu machen.« Nevera wartete einen Moment lang Apolonias Reaktion ab, dann löste sie die gefalteten Hände und griff nach ihrer Tasse. Nachdenklich rührte sie mit einem Löffel im Tee, obwohl er bestimmt nicht mehr heiß war. »Ich gehe davon aus, dass Morbus dir demonstriert hat, wie die Blutbücher funktionieren und was man mit ihnen bewirken kann.«

»Wenn Sie den Raub von Erinnerungen und die Beeinflussung des menschlichen Willens meinen, dann allerdings«, gab Apolonia zurück, doch es klang längst nicht mehr so angriffslustig, wie sie es sich vorgenommen hatte. Nevera hatte sie ins Zweifeln gebracht.