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»Nun.« Nevera hob den Blick nicht von ihrem Tee. »Wie ich mir gedacht hatte. Jonathan hat einen äußerst wichtigen Teil ausgelassen, was den Sinn der Blutbücher betrifft. Für ihn als Künstler mögen die Bücher einen gewissen Reiz besitzen, das muss ich wohl einräumen. Für mich aber sind sie Nutzobjekte. Notwendige Nutzobjekte. Begreifst du denn noch immer nicht, Liebes? Wir fangen nur die Erinnerungen von Motten, die eine Gefahr für die Menschheit darstellen! Es ist der einzige Weg, um ihnen Einhalt zu gebieten: Sie müssen vergessen, wer sie waren und was sie konnten, sonst zerstören sie die Ordnung der Welt mittels ihrer Kräfte! Denn Gaben wie die unsrigen gehen mit finsteren Brüdern einher - Gier und Macht und Größenwahn, Apolonia. Glaubst du allen Ernstes, die Menschheit hätte sich so friedlich entwickeln können, wäre es in der Vergangenheit allzu vielen Motten gelungen, ihre düsteren Absichten in die Tat umzusetzen? Kriege, Apolonia, Kriege von unermesslichem Ausmaß wären schon längst ausgebrochen, hätte es nicht immer Motten gegeben, die ihren dunklen Genossen Einhalt gebieten! Die Welt, die du tagtäglich von deinem Fenster aus siehst, mag dir geregelt und harmlos erscheinen. Doch darunter wütet seit Jahrhunderten eine Schlacht zwischen Gut und Böse. Der Frieden der Welt liegt seit jeher in den Händen weniger, auch wenn ihre Namen nie berühmt, ihre Taten nie bekannt werden. Wenige Motten sind es, die ihre außergewöhnlichen Gaben dazu einsetzen, das Böse in Schach zu halten - denn Gaben, wie wir sie haben, sind nicht dazu geschaffen, von Menschen eingesetzt zu werden. Zu groß ist die Macht. Zu groß die Verlockung ... und nur wenige, sehr wenige können ihr widerstehen, um jene, die es nicht können, aufzuhalten. Wir Dichter sind diese wenigen.

Unsere Feinde, die einzigen wahren Feinde der zivilisierten Welt, Apolonia, haben einst deine Mutter getötet. Sie waren es, die das Geschäft deines Vaters in Brand gesetzt und ihm den Verstand geraubt haben. Sie sind es, vor denen ich dich beschützen wollte, indem ich dich hierherbringen ließ! Sie ... nennen sich der Treue Bund der Kräfte. Kurz TBK. Ihre Gabe erlaubt ihnen, ihren Gegnern alle physische Kraft abzuziehen und für ihre Zwecke zu missbrauchen.«

»TBK?«, wiederholte Apolonia mit brüchiger Stimme. »Das ist doch die Terroristengruppe, die vor acht Jahren die Regierung stürzen wollte. Das waren Motten?«

»So ist es. Damals vor acht Jahren hätten wir alle beinahe unsere Freiheit verloren; wäre der Plan des TBK in Erfüllung gegangen, würden wir heute unter der Diktatur eines grausamen Tyrannen leben, eines Tyrannen mit Mottengaben. Kannst du dir vorstellen, wie katastrophal es wäre, wenn jemand in einer solchen Machtposition übersinnliche Kräfte hätte und keine Moral?« Neveras Wangen glühten, und ein Funkeln lag in ihren Augen, das erst allmählich wieder erlosch. Behutsam stellte sie ihre Teetasse ab. »Zum Glück ist es nie dazu gekommen und die einstige Macht des TBK ist am Schwinden. Sie halten sich versteckt und sind stets verschwunden, sobald wir ihren neuesten Unterschlupf ausfindig machen. Denn wenn es zu einer direkten Konfrontation mit uns Dichtern kommt, das wissen sie, sind sie uns unterlegen - das Böse unterliegt dem Guten zum Glück immer auf wundersame Weise. Der Grund dafür sind unsere Blutbücher. Für den Kampf gegen den TBK sind die Blutbücher von unermesslichem Wert. Denn die Sprache ist ein Gefängnis für die Wahrheit. Ein Gefängnis, in das wir Erinnerungen sperren können, weil sich in ihnen die Mottengaben verbergen.« Ihr Blick irrte kurz, beinahe wie versehentlich, zu Vampa, doch es genügte, damit Apolonia die Bedeutung von Neveras Erklärung begriff.

Eiseskälte rieselte ihr den Rücken hinab. Langsam wandte sie den Kopf und sah in Vampas ausdrucksloses Gesicht. Seine Augen waren auf ihre geheftet, lesend und vertieft. Hatte er verstanden, was Nevera gesagt hatte? War er ebenso schockiert wie Apolonia? Oder ... oder wenn es wirklich stimmte, wusste er schon längst, wer er einmal gewesen war?

Apolonias Hand berührte seinen Arm nur noch leicht. Ihre Fingerspitzen schwebten über dem Stoff seines Mantels.

»Ja«, sagte Nevera sanft, und ihr Gesicht glühte vor Hass. »Auch er, wie alle Opfer der Blutbücher, war einst ein Terrorist des TBK!«

Apolonia löste sich erst aus ihrer Erstarrung, als ein leises Geräusch von der Zimmertür her verriet, dass jemand eingetreten war. Ein Lächeln schlich über Neveras Gesicht. Apolonia drehte sich um. Auf der Schwelle stand Morbus, die Hände auf dem Rücken verschränkt, den Kopf leicht geneigt wie jemand, der tief in Gedanken ist.

Er trug einen schlichten, modischen Anzug mit einer Seidenweste, einem dunkelroten Schlips und silbernen Manschettenknöpfen. Sein Haar war nicht mehr, wie bei ihrer letzten Begegnung, ungeordnet und strähnig, sondern mit Duftpomade frisiert. Aus blassen Augen lächelte er Apolonia an.

»Guten Tag.« So ungezwungen, als seien sie schon immer Freunde gewesen, durchschritt Morbus das Zimmer und ließ sich am Tischende zwischen Apolonia und Nevera auf einen grünen Samtsessel sinken. Dann schlug er die Beine übereinander und warf einen freundlichen Blick in die Runde. Bei Vampa runzelte er leicht die Stirn. »Mir wurde bereits gesagt, dass du einen Gast mitgebracht hast. Das freut mich. Es ist besser, den Jungen gleich hier zu haben, als ihn erst suchen zu müssen.«

Apolonia starrte Morbus an und wusste nicht, was sie fühlen und denken sollte. Der elegante Herr, der dort neben ihr saß, schien so höflich und arglos, als könne er keiner Fliege etwas zuleide tun.

Sie rang leise nach Luft. War die Welt denn verrückt geworden?! Morbus war immer noch der Mann, der sie verschleppt und gequält hatte! In ihrem Kopf kreisten die Bilder aus jener Nacht in der Lagerhalle ... War sie denn gequält worden? Was hatte Morbus eigentlich getan? Er hatte versucht, sie mit dem Blutsatz zu manipulieren... und ihr die Erinnerung an ihre Mutter zu stehlen. Ja, genau - genau deshalb wusste sie, dass er nicht der war, der er jetzt zu sein vorgab!

Kaum merklich trat sie einen Schritt von ihm zurück, obwohl er so friedlich in seinem Sessel saß, als wolle er über das Wetter plaudern. Gleichzeitig wich Apolonia auch von Vampas Seite.

»Schätzchen, willst du dich nicht setzen?«, fragte Nevera in die Stille und bedachte sie mit einem Blick, als sei sie die Verrückte.

»Er ist ein Krimineller!« Sie richtete den Zeigefinger auf Morbus, auch wenn sie das Gefühl hatte, dadurch eher ihre Hilflosigkeit als seine Schuld zu offenbaren. »Er hat versucht, mir die Erinnerungen an meine Mutter zu stehlen, an meine Mutter, Ihre Schwester! Wie können Sie so neben ihm sitzen? Er hat ... er hat ...«

»Er hat genau das getan, was jeder von uns tun würde, um dem Bösen Einhalt zu gebieten«, sagte Nevera. »Nichts ist so wichtig, wie dem Treuen Bund das Handwerk zu legen, und jeder Sieg über ihn, egal wie klein, ist seinen Preis wert. Wenn die Erinnerung an deine Mutter dich davon abgehalten hätte, dich uns anzuschließen, so hätte Jonathan recht daran getan, dir die Erinnerungen zu nehmen. Wir Dichter können uns im Kampf gegen die Bundmotten nicht leisten, Rücksicht auf uns selbst zu nehmen - schließlich stehen nicht nur persönliche Schicksale auf dem Spiel, sondern die Zukunft der gesamten Menschheit.«

Apolonias Blick glitt zu Morbus, der bei Neveras Worten sein Lächeln verloren hatte und dabei ernst, fast traurig geworden zu sein schien. Apolonia vermochte nicht zu sagen, was sich hinter seinen Augen abspielte. Sie wirkten nicht mehr halb so wahnsinnig wie damals in der Lagerhalle ... Wie konnten sich Augen bloß so verändern?

»Nein. Dieser Mann ist ein Krimineller. Ich weiß es.« Dabei wusste sie das überhaupt nicht mehr und ihr Zweifel war kaum zu überhören.

»Apolonia... Wenn ich ein so großer Bösewicht wäre, wie du mir vorwirfst, meinst du dann nicht, dass ich vorgestern Nacht ganz andere Dinge getan hätte? Stattdessen habe ich doch versucht, dir zu erklären, was die Dichter tun - meinst du, das erzähle ich jedem? Ich wollte dich überzeugen, eine von uns zu werden. Daran musst du dich doch erinnern?«