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Bassar verließ den Park. Allmählich zog die Dämmerung auf, es war kühler geworden. Am seidenblauen Himmel glänzte der Vollmond rund und glatt wie eine Goldmünze. Bassar stieg in eine Pferdebahn und fuhr zum Polizeipräsidium. Geschäfte und Gasthöfe zogen an ihm vorbei, Frauen, Männer, Kinder. Er beobachtete eine Gruppe Jugendlicher, die im Schatten einer Seitengasse Murmeln spielten und rauchten. Rufe, Gelächter und der Frieden eines lauen Herbstabends umschwebten sie.

Bassar strich sich erschöpft über die Wangen und schloss die Augen. Er war müde und fühlte sich plötzlich alt. Schon siebenundzwanzig galten als vermisst.

Der tote Junge

Vampa wollte sein geheimes Zimmer nicht verlassen, denn so war es immer, wenn man ein Blutbuch anfing: Es hielt einen fest. Man konnte sich von den Worten nicht mehr trennen, so wie man sich nicht von sich selbst, seinen Gedanken und Erinnerungen, seiner Identität trennen kann.

Aber er musste gehen, schließlich wartete man auf ihn. Er hatte ja seine kleine sinnlose Arbeit, um weiterhin essen zu können ... Widerwillig trennte er sich von Der Junge Gabriel, klappte das Buch zu und legte es zwischen zwei Bücher, damit es nicht feucht wurde. Früher oder später würde es zerfallen wie alle anderen Bücher auch, aber jetzt brachte Vampa es noch nicht über sich, das zuzulassen. Wenn man etwas liebt, und sei es auch nur für die Dauer einer Romanerzählung, sorgt man sich darum. Und im Moment wollte er nicht, dass Der Junge Gabriel zu schimmeln begann.

Er zog sich die Hosenträger über die Schultern und seine geflickte schwarze Jacke darüber. Er hatte auch einen dunkelgrünen Anzug mit einer Weste, der vor langer Zeit einmal fein gewesen war, aber aus zweierlei Gründen bevorzugte er die einfachen Sachen: Erstens erregten sie an den Orten, wo er sich herumtrieb, weniger Aufmerksamkeit, zweitens hatte er die Hose und das Hemd vor zwei Jahren gestohlen, der Anzug aber war über neun Jahre alt, und alles Neue war ihm willkommen.

Dann schnitt er sich die schulterlangen Haare mit einem Klappmesser ab. Die Strähnen fielen rings um ihn auf Matratze und Bücher, bis seine dichten, strubbeligen Locken ihm nur noch bis zu den Ohrläppchen reichten. Am Hinterkopf hatte er sich sogar noch mehr abgesäbelt, sodass die Haare wirr in alle Richtungen abstanden. Er klappte das Messer wieder zu, steckte es in die Hosentasche und zog sich die Mütze tief in die Stirn. Dann verließ er sein Zuhause, kletterte die Leiter hoch, zwängte sich an den rauschenden Abflussrohren vorbei und kam ins Freie.

Es war früher Abend. Er hatte so gut wie den ganzen Tag verschlafen. Vampa vergrub die Hände in den Hosentaschen und ging los.

Der Weg bis zur Arbeit gefiel ihm. Er war zwar ein bisschen lang, er musste fast dreißig Minuten stramm gehen, aber das machte ihm nichts aus. Zuerst durchquerte er die wohlhabenden Stadtviertel und kam an Puppengeschäften, Parfümerien und Hutmachern mit klangvollen Namen vorbei. Kleine Kinder in roten Mänteln mit dazu passenden Mützen liefen an den Händen ihrer Kindermädchen und schleckten große Spirallutscher; elegante Herren führten noch viel elegantere Windhunde spazieren; geschäftige Bankangestellte eilten durch die Menge, um die Pferdebahn nicht zu verpassen. Es roch nach gebrannten Mandeln, nach frischem Brot, und die Schaufenster der Konditoreien schmückten schon jetzt festliche Schneehügel, Engel, Sterne und Christkinder aus Marzipan. Glänzende Automobile brausten hupend an den Kutschen vorbei. Ein schmutziger Zeitungsjunge hüpfte gerade noch rechtzeitig auf den Bürgersteig, bevor eines der neumodischen Gefährte ihn überrollen konnte.

Vampa bog bald nach links auf einen Markt. Kutschen ratterten an ihm vorbei. Bäuerinnen und Kartoffelverkäufer hatten ihre Stände noch nicht abgebaut und eine Metzgerei nach der anderen säumte die Straße. Es wurde gefeilscht, gerufen, gekauft und gestohlen. Ein Grüppchen feiner Damen kam Vampa entgegen, die Hüte mit mehr Federn trugen, als eine Gans am Leib hatte. Die jungen Frauen scherzten ausgelassen und schoben sich mit behandschuhten Fingern Anisbonbons in den Mund. Vampa wich ihnen aus, und die Damen zogen an ihm vorüber, ohne ihn zu bemerken.

Ich wäre so alt wie sie.

Vampa wandte sich ab und ging schneller. Er hielt den Kopf gesenkt. Wenn ihm die Leute direkt ins Gesicht blickten, erschraken sie vor etwas, das sie sich nicht erklären konnten; als würden sie für Sekunden ein schreckliches Licht in seinen Augen sehen, ehe es ebenso schnell erlosch, wie es gekommen war, und sie vergaßen, dass es je existiert hatte.

Er bemühte sich meistens darum, unbemerkt durch die Menge zu schlüpfen. Auch heute nahm kaum einer den Jungen wahr, der durch die vom Abendlicht durchtränkten Straßen huschte, schnell und lautlos, einer von vielen Lumpenjungen, die in den Dämmerstunden die Stadt bevölkerten.

Als der Marktlärm hinter ihm zurückblieb, bog er in eine Seitengasse und erreichte ein wahres Labyrinth kleiner Straßen und Hinterhöfe. Schänken, die der Geruch von Bier umwölkte, und Wirtshäuser zweifelhaften Rufes drängten sich in den engen Gassen zusammen, dazu unzählige kleine Geschäfte, schmuddelige Barbiere und Antiquitätenhändler, Pfandhäuser und Nähereien. In den Höfen zwischen dunklen Hausfassaden riefen Kinder aus Leibeskräften: »Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?« Hundekläffen hallte durch das Viertel, Ratten huschten durch die Abfälle und ein Gewirr fremder Sprachen drang aus den Fenstern. Manche Prediger sagten, Viertel wie diese seien die Brutstätte allen Übels, aber in Wirklichkeit waren sie die Quelle des Lebens. Was hier kochte und brodelte, wimmelte und wuselte, das war die Natur und was die Menschen aus ihr machten.

Vampa nahm bei jeder Weggabelung die dunkelste und schmalste Straße. Hier drang kaum Licht hinab; was die Backsteinhäuser nicht hinter sich verbargen, wurde von den Leintüchern verschluckt, die über die Gassen gespannt waren. Er erreichte eine Sackgasse. Hinter der bröckeligen Mauer an ihrem Ende türmte sich Abfall und ihm atmete dunstiger, saurer Gestank entgegen. Links und rechts waren die Häuser scheinbar unbewohnt. Und doch wusste er, dass er aus den Fenstern beobachtet wurde: Gewehrläufe und Pistolen zielten aus der Finsternis auf seinen Kopf.

Ein einziges Geschäft befand sich in der Gasse. Die rote Farbe der Tür blätterte bereits ab, und der runde Messinggriff, einst golden lackiert, hatte längst zu rosten angefangen. Die Aufschrift auf dem Schaufenster war nur noch schwer zu lesen: Fräulein Friechens Teestube. Teesorten aus aller Herren Länder.

An der Tür hingen ein schweres Eisenschloss und ein Schild, auf dem stand: Geschlossen.

Vampa drückte die Türangeln nach oben. Sie ließen sich problemlos schieben, nicht das leiseste Quietschen erklang. Dann schwang die Tür mit einem lautlosen Luftzug nach innen auf, Schloss und Türgriff noch immer fest verriegelt.

Ein süßlicher, modriger Teeduft umhauchte Vampa. So stellte er sich den Geruch einer alten Frau vor, die einmal wunderschön gewesen war - wie das schwelende Aroma einer welken Blume.

»Wer ist da?«, fragte eine zittrige Stimme. Aus dem Halbdunkel schlurfte eine Frau, die sich schwer auf ihren Gehstock stützte. Ihr weißes Haar umflammte das ausgezehrte Gesicht wie flatternde Spinnweben.

»Hallo, Fräulein Friechen«, sagte Vampa leise. Die Alte hob blitzschnell ihren Gehstock und hielt ihn an Vampas Kehle. Eine messerscharfe Eisenspitze kitzelte ihm den Hals.

»Bist du alleine, Vampa?«, fragte die Alte freundlich.

»Wie immer.«

Ein Lächeln glitt über das Runzelgesicht der Alten. »Du kennst ja den Weg.«