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»Hört auf! Ihr Schwachköpfe! Er kann nicht sterben!«, schrie eine Stimme, doch sie ging im Rufen und im Lärm der Schüsse unter.

Vampa kletterte den Baum hinunter, bis er den Ast einer nahe stehenden Eberesche greifen konnte. Sanft neigten sie sich unter seinem Gewicht dem Boden zu, sodass er abspringen konnte und strauchelnd auf der weichen Erde landete. Unter seinem Fuß knackte ein Zweig, sonst herrschte tiefe Stille. Die Rufe der Dichter waren bereits so fern, dass man sie nicht mehr verstehen konnte. Vampa richtete sich schwerfällig auf. Sein keuchender Atem gefror zu Wölkchen und hüllte sein Gesicht mehrere Augenblicke lang in Dunst.

Als er zu rennen begann, erst taumelnd, dann immer sicherer, bis seine Lungen brannten, begleitete ihn nur das Knistern der Tannennadeln, die seine Schritte dämpften.

Die Dämmerung senkte sich über Wald und Felder. Im Dorf gingen Lichter an, Hunde bellten, als ihre Herren nach Hause kamen, und der Duft von Abendessen sickerte durch die Ritzen der dunstbeschlagenen Fenster. Vom mattblauen Himmel fielen vereinzelte Schneeflocken, die im Licht der Laternen glitzerten wie herabrieselnde Sterne. Wenn es noch eine Weile weiterschneite, würden Vampas Fußspuren bald verschwunden sein.

Er war so nah an das Dorf herangekommen, wie es ging, ohne den Wald zu verlassen. Als es dunkler geworden war, hatte er das letzte Stück durch die Obstgärten zurückgelegt und war in die offene Scheune des nächsten Hofes geschlichen. Lautlos kletterte er auf den Heuboden und tastete sich durch die Finsternis, bis er eine Ecke erreichte und sich im Stroh niederließ.

Es war bitterkalt. Er zog die Knie dicht an den Körper und versuchte, sich selbst zu umarmen. Dann schloss er die Augen, lehnte den Kopf gegen die Wand und lauschte. Aber er hörte nur die Schweine, die unter ihm in ihren Ställen grunzten.

Es war zu erwarten, dass die Dichter ins Dorf kamen und die Höfe nach ihm durchsuchen ließen. Vielleicht gelang es Vampa, ihnen noch einmal zu entwischen. Fest stand, dass er vorerst hierbleiben musste, um sich zu sammeln und zu überlegen, was er weiter tun sollte.

Zurück in die Stadt konnte er nicht, jedenfalls nicht gleich; es gab nur eine Straße, umgeben von Feldern, und höchstwahrscheinlich suchten die Dichter ihn dort zuerst. Er würde mindestens bis zum Morgengrauen warten müssen, dann erwischte er womöglich einen Postwagen und konnte sich mitnehmen lassen. Wenn er dann wieder zurück war, könnte er versuchen, diesen Collonta und den TBK zu finden. Er könnte ihnen erzählen, was er erfahren hatte - vielleicht würden ihn manche Terroristen sogar wiedererkennen, an die er sich selbst nicht mehr erinnerte - und dann wäre er wieder der, der er vor neun Jahren gewesen war. Er hätte sein Leben zurück. Nur seine Gefühle, die wären noch in irgendeinem Buch.

Vampa wandte den Kopf hin und her und wischte sich die Nase. Nein, er wollte nicht zum TBK, was würde ihm das denn nutzen? Der Gedanke daran, zu ihnen zu gehören, ließ ihn völlig kalt. Genauso gut könnte er das Leben eines Schornsteinfegers oder eines Schweinehirten annehmen, so wenig schien es mit ihm zu tun zu haben.

Er öffnete die Augen, aber es blieb so finster, als hielte er sie noch geschlossen. Erst allmählich erkannte er den schwachen bläulichen Schimmer, der ihm gegenüber ein Loch im Holz umzeichnete. Er stellte sich Apolonia bestimmt zum hundertsten Mal vor, seit er geflohen war. Er dachte an die Lichter, die er in ihren Augen gezählt hatte, ein Glitzern am Rand der Wimpern, verschwunden mit dem nächsten Blinzeln ... er hatte das bewirkt. Er war Grund für diese winzigen, funkelnden Lichter gewesen, die schneller erloschen waren, als ein Herzschlag dauerte. Ganz vage spürte er etwas in sich, das seiner Ungewissheit, was er weiter tun sollte, ein Ende setzte. Er würde nicht zum TBK zurückkehren, ob dort sein früheres Leben zu finden war oder nicht. Er wollte nicht dem Bösen angehören. Denn vielleicht war der Raub seiner Persönlichkeit ja wirklich richtig gewesen, zum Wohle der Welt ... dagegen wollte Vampa sich nicht stellen. Apolonia gehörte doch zu den Guten. Und wenn er schon nicht zu ihr gehören konnte, wollte er zumindest nicht gegen sie sein ...

Vampa wurde schlecht und heiß und kalt in rascher Abfolge. Mit heftig klopfendem Herzen wurde ihm bewusst, dass er nicht nur eine Entscheidung getroffen hatte - er fühlte. Er hatte aus einem Gefühl heraus beschlossen, nicht zu seiner Vergangenheit zurückzukehren.

Gelähmt von dieser Erkenntnis, saß er im Dunkeln.

Das weiche Licht einer Petroleumlampe schälte sich aus der Nacht. Stöhnend wandte Tigwid den Kopf. Seine Schulter schmerzte unerträglich, und mit jedem Atemzug war ihm, als zöge jemand Draht durch seine Haut. Blinzelnd öffnete er die Augen, sodass das Licht nicht mehr nur ein Flimmern um seine Wimpern war. Über ihm erschien eine Zimmerdecke, von der die Farbe abblätterte wie schuppige Haut. Tigwid sah an sich hinab und entdeckte eine graue Wolldecke, die ihm bis zur Brust hochgezogen war.

Was war passiert?

Nur schleppend, bruchstückhaft kehrte die Vergangenheit zu ihm zurück.

Die Brücke. Er war gerannt. Und dann der brennende Schmerz. Der Boden war unter seinen Füßen fortgesunken und dann ... Ja, was war dann geschehen? Wo war er hier gelandet?

Das Gefängniskrankenhaus konnte es nicht sein, dazu war es viel zu ruhig. Und irgendwo in Mone Flamms Gewalt konnte er ebenso wenig sein, dazu war er viel zu lebendig.

Tigwid sammelte seine Kräfte, um sich aufzurichten. Mit zittrigen Fingern streifte er die graue Decke ab und spürte erschrocken, dass er nichts darunter anhatte. Er lüftete die Decke ein zweites Mal - wenigstens eine Hose trug er noch, doch es war eine viel zu große, schmuddelige Stoffhose, die ihm nicht gehörte. Um seine Schulter und seine Brust war ein fester Verband gewickelt.

»Hallo«, sagte eine ruhige Stimme.

Tigwid drehte den Kopf. Jenseits des Lichtscheins bewegte sich jemand, dann tauchte ein eckiges Gesicht in die Helligkeit. Schatten saßen unter den Brauen und über dem kräftigen Kinn, doch die dunklen Augen trugen ein Leuchten von zarter Leidenschaft in sich. Tigwid hatte den Jungen, der sich an seine Matratze gehockt hatte, im ersten Moment für einen erwachsenen Mann gehalten, doch allmählich erkannte er, dass er höchstens zwei Jahre älter als er selbst sein konnte.

Tigwid stützte sich mühselig auf einen Ellbogen, dann auf die Hand, um aufrecht sitzen zu können. Ein stechender Schmerz durchzog seine Schulter. Er biss die Zähne zusammen.

»Ist es sehr schlimm?«, erkundigte sich der junge Mann. »Wir haben alles versucht, aber um ehrlich zu sein ... nun, ich weiß leider nicht, wie es um Marts medizinisches Können steht.«

»Wo bin ich?«, fragte Tigwid.

Ein kurzes Lächeln huschte über das Gesicht des Fremden und ließ ihn Jahre jünger wirken. »Du bist in Sicherheit. Ich hoffe, das beantwortet deine Frage im Wesentlichen.«

»Und wer bist du?« Tigwid scherte sich nicht darum, höflich zu klingen, auch wenn der Junge oder sein Freund ihn offenbar verarztet hatten.

»Ich bin Fredo«, sagte der Fremde und streckte ihm eine kräftige Hand hin. Obwohl es Tigwid einige Mühe kostete, sein Gewicht nach vorne zu verlagern und ihm die Hand zu schütteln, tat er es und stellte sich vor: »Tigwid.«

Fredo runzelte die Stirn. »Tigwid? Ich dachte, du heißt Jorel.«

Tigwid musterte ihn misstrauisch. »Wer hat das gesagt?«

»Bist du denn nicht Jorel? Wenn nicht, haben wir den Falschen aus dem Wasser gezogen.« Fredos finsterer Ton überzeugte Tigwid, ihm ein wenig zu vertrauen.