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»Na, die Dichter hast du ja wenigstens schon getroffen und das ist immerhin die Hälfte der Wahrheit. Wir sind die anderen. Wir sind die Motten, die den rechten Weg nicht verlassen haben. Wir sind auch bekannt als der Treue Bund der Kräfte. Obwohl dieser Name unsere Gaben banalisiert. Aber so ist es wohl mit allen Namen und allen Worten, nicht wahr? Sie vereinfachen immer das Wesentliche.«

Tigwid betrachtete den alten Mann. Das sanfte Lächeln schien zu seinem Gesicht zu gehören wie das Muster im Stamm einer Eiche, das die Witterung über Jahre hinweg hineingearbeitet hat.

»Wieso sollte ich euch glauben, dass ihr keine Dichter seid oder genauso schlimm?«, erwiderte Tigwid ruhig. »Ihr seid doch Motten. Morbus hat gesagt, dass das Buch der Antworten eigentlich eine Falle von euch war.«

»Nein, nein, nein.« Collonta machte eine sorgenvolle Miene. »Die Dichter und wir vertreten ganz andere Einstellungen. Die Dichter glauben, nur die Sprache verbinde die Menschen und deshalb seien sie blind und könnten nur sich selbst lieben. Aber wir vom Treuen Bund wissen, dass man die Gefühle anderer Menschen nicht in Bücher sperren muss, um sie wirklich zu empfinden. Ich kann es dir zeigen ... wenn du möchtest.«

Tigwid zögerte. »Wie?«

Collonta lächelte und wieder spreizten sich hundert zarte Fältchen um seine Augen wie Insektenflügel. »Nun, ganz einfach. Setze dich gerade auf, bitte. Und da du von allen hier mit Bonni am vertrautesten bist, wie ich vermute, bitte ich dich, Bonni, uns bei diesem kleinen Experiment zu assistieren.« Collonta wies auf einen Stuhl, der in einer Zimmerecke stand. Bonni holte ihn, sodass sie gegenüber vor Tigwids Matratze Platz nehmen konnte.

»Zuallererst«, wies Collonta ihn an, »sieh Bonni tief in die Augen. Keine Scheu. Konzentriere dich auf nichts, lass einfach zu, dass sie dich ansieht und eure Blicke euch verbinden.«

Stille trat ein, während Tigwid und Bonni sich ansahen. Nach einer knappen halben Minute spürte Tigwid an einem leichten Spannen um seinen Mund, dass er ihr Lächeln erwiderte. Das war nicht weiter ungewöhnlich.

»Gut«, sagte Collonta leise, »und nun schließt die Augen.«

Bonni schloss die Augen und Tigwid tat es ihr gleich. Er merkte, dass er nur noch flach atmete und seine Haut sich kribbelig anfühlte, in Erwartung, dass etwas geschah. Dann spürte er eine Hand, die die Spitzen seiner Haare berührte. Es konnte nur Collonta sein. Die Hand strich langsam an einer Haarsträhne hinab ... und hinab ... bis zu den Spitzen, die plötzlich bis zu seinen Schultern reichten. Tigwid riss erschrocken die Augen auf und sah zur Seite, doch da stand überhaupt kein Collonta, und niemand berührte eine Haarsträhne, die bis auf seine Schulter fiel - seine Haare waren nicht länger als zuvor! Verblüfft schwenkte sein Blick zu Bonni, die soeben die Augen aufschlug. Collonta stand neben ihr und hielt ihr Haar in der Hand. Er lächelte vergnügt wie ein Schuljunge, dem es gelungen war, die Aufgabe an der Tafel richtig zu lösen. Tigwid schlug sich tapsig auf die kurzen Haare im Nacken.

»Was - habe ich - ihre Haare - aber wie?«

Collonta klatschte leise in die Hände. »Siehst du? Du hast soeben gefühlt, was Bonni gefühlt hat. Und nicht nur hast du meine Berührung gespürt, sondern auch ihr Haar. Man könnte sagen, für einen kurzen Augenblick«, schloss Collonta fröhlich, »hast du wie sie empfunden - du warst also für ein paar Sekunden Bonni.«

Bonni erhob sich mit einem entschuldigenden Lächeln und strich sich das Kleid glatt. »Siehst du jetzt, Jorel? Es gibt Verbindungen zwischen allen Lebewesen, die weder irgendwelcher Worte noch Mottengaben bedürfen.«

»Also war das keine Mottenkraft?«, fragte Tigwid, der immer erstaunter wurde.

»Nicht alle Zauberei hat etwas mit unseren Gaben zu tun, nicht alle Zauberei!«, sagte Collonta. »Denn wenn man es sich gründlich überlegt, bestehen doch neunzig Prozent des Lebens aus Wundern, der Rest ist nichts, ist Langeweile, ist Warterei. Was soeben geschehen ist, kann jeder Mensch empfinden, ob Motte oder nicht - ich nehme sogar an, dass auch Tiere dieses Experiment nachspielen könnten, wenn sie wollten. Und wahrscheinlich wären die meisten Tiere darin sogar besser als die Menschen, denn je mehr man über dieses kleine Wunder nachdenkt, umso schwieriger wird es, daran teilzuhaben.«

Tigwid schwindelte. Er hatte also gerade ein Wunder am eigenen Leib erlebt und sich für wenige Augenblicke in ein Mädchen verwandelt, wozu überdies jeder gewöhnliche Mensch fähig war. Unauffällig strich er sich über Brust und Schulter, um zu prüfen, ob er sich irgendwie verändert hatte.

»Das war aber alles nur in meinem Kopf, oder?«, fragte er vorsichtshalber. »Ich habe mich nicht äußerlich verwandelt ...«

»Sehr klug«, lobte Collonta. »Wie gesagt, die geistige Nähe, die zwischen dir und Bonni bestand, hatte nichts mit Mottenkräften zu tun, und es fand keine Illusion statt. Was du gefühlt hast, war ganz und gar echt - weder dein Verstand noch dein Körper wurde getäuscht.«

Nun trat Collonta neben Zhang und legte ihr die Hände auf die Schultern. Das chinesische Mädchen hatte sich gereckt und schien ein paar Zentimeter größer als vorher, ob das nun an der stolzen Haltung lag oder der Mottengabe.

»Unsere Zhang ist eine wahre Meisterin in der Erschaffung von Illusionen!«, schwärmte Collonta mit einem schalkhaften Blitzen in den Augen. Kaum hatte er zu Ende gesprochen, stand keine Zhang mehr neben ihm, sondern ein zweiter Collonta. Es war ein perfekter Doppelgänger - sogar das leicht zerknitterte Taschentuch in seiner Westentasche glich dem Original.

»Oh!«, lachte der echte Collonta, während sich der zweite Collonta zu Tigwid drehte und mit derselben Stimme fortfuhr: »Das hier ist genau das Gegenteil von dem Haarexperiment. Du wirst nämlich gerade hinters Licht geführt, weil ich dir per Mottenkraft einrede, dass du Erasmus doppelt siehst. Aber in Wirklichkeit stehe natürlich bloß ich vor dir, nur siehst und hörst du mich nicht so, wie ich bin.« Der Collonta-Doppelgänger wedelte mit den Händen und vollführte einen Hüftschwung, der für das Alter seiner Hüften höchst verdächtig wirkte, und mit einem Dreh schmolz die Erscheinung fort, und Zhang senkte die Hände.

Tigwid musste anerkennend nicken. »Verblüffend. Bloß deine Wortwahl verrät dich. Und die Körperhaltung ... Hast du eigentlich schon mal daran gedacht, dich als Papst auszugeben und dir die hübschen Schätze im Vatikan genauer anzugucken?«

»Ständig«, gab Zhang lässig zurück. Aber an dem Funkeln in ihren Augen meinte Tigwid zu erkennen, dass diese Antwort nicht völlig scherzhaft gemeint war.

Collonta klopfte ihr noch einmal auf die Schulter und bedachte Tigwid mit einem nachdenklichen Lächeln. »Ich freue mich, dass du zu uns gefunden hast. Wir haben uns viel zu erzählen.«

Apolonia wurde von Nevera in ein Zimmer geführt, wo sie sich ausruhen, waschen und mit dem Gedanken anfreunden konnte, dass ihr Leben sich von Grund auf ändern würde. Sie durchquerten lange Gänge und eine kleine Halle mit einem Wintergarten, bis Nevera vor einer Flügeltür haltmachte und Apolonia über den Arm strich.

»Bedeutet das auch, dass ich nie wieder diese sinnlosen Erdkunde- und Geografiestunden bei Herrn Klöppel habe?«, fragte Apolonia plötzlich, der der Gedanke an ihren vergreisten Hauslehrer wahllos zugeflattert war, wie alles, seit sie Morbus und die Dichter verlassen hatte.

»Ich denke, dass deine Ausbildung nach wie vor eine wichtige Rolle spielen sollte«, erwiderte Nevera sanft. »Allerdings wird es andere Schwerpunkte geben. Es ist gut, wenn du weiterhin bei Herrn Klöppel bleibst, alles soll nach außen hin so bleiben, wie es war. Aber wir werden die Unterrichtszeit reduzieren müssen. Dein neuer Lehrer wird Jonathan sein.«