Выбрать главу

»Wir erfinden den TBK nicht«, erwiderte Apolonia nüchtern. »Wir zeichnen lediglich das Phantombild einer Verbrecherbande, die das Gesicht verdient hat, das wir ihr verpassen werden.«

»Gewiss, gewiss.« Brahms lächelte verstohlen. »Sie sind noch sehr jung. Sie werden merken, dass das Schreiben immer etwas mit Erfindung zu tun hat.«

»Das ist mir durchaus bewusst, wie Sie merken werden ... Teil eins: meine Entführung.«

Allmählich ging es Tigwid immer besser und seine Schusswunde verheilte dank der sorgsamen Pflege des TBK. Loo bekochte ihn mit Linseneintopf, Hühnerbrühe, Auflauf und Pudding wie die liebevolle Schwester, die er nie gehabt hatte. Auch Bonni und die anderen Mitglieder des Treuen Bunds kümmerten sich wie eine Familie um ihn, und Tigwid wurde klar, dass er nie so viel Freundlichkeit erfahren hatte wie hier, in dieser heruntergekommenen Wohnung voller leckender Leitungen, Berge aus zerlaufenem Kerzenwachs und Löcher in der Wand. Anfangs war er misstrauisch, schließlich hatte das Leben ihn gelehrt, dass man nichts umsonst bekam - außer man war ein guter Dieb. Was erwartete der TBK also in Gegenzug von ihm? Aber vielleicht ... vielleicht gab es ja wirklich so etwas wie aufrichtige Nächstenliebe, die nicht auf Berechnung beruhte. Tigwid gefiel die Vorstellung.

Während er wieder zu Kräften kam, hingen seine Gedanken fast pausenlos an Apolonia und Vampa. Er wusste noch immer nicht, was aus ihnen geworden war, und je öfter er sich die Situationen ausmalte, in denen sie gerade stecken mochten, umso schlimmer kamen sie ihm vor. Er hätte Bonni oder ein anderes TBK-Mitglied bitten können, sich nach den beiden umzuhören, aber er wollte niemanden in die Sache hineinziehen. Der TBK hatte ihm geholfen - er war es, der Apolonia helfen musste. Gut möglich, dass sie auch festgenommen worden war ... wenigstens wäre sie im Gefängnis vor den Dichtern sicher ...

»Woran denkst du?«, fragte Bonni, als sie sich neben ihn setzte und ihm ein Glas Wasser reichte. Dankbar nahm er das Glas entgegen.

»Du bist doch diejenige, die alles sieht und weiß. Kannst du das nicht mit deiner Mottengabe, die Gedanken anderer ausspionieren?«

Bonni lächelte ein wenig. »Ich bin Visionistin, aber das heißt noch lange nicht, dass ich allwissend bin. Meistens sehe ich Dinge, nach denen ich gar nicht Ausschau gehalten habe.« Eine Weile saßen sie schweigend nebeneinander und Tigwid nippte an seinem Wasser. »Du denkst an das Mädchen, stimmt’s? Die, die ich dir damals prophezeit habe.«

»Siehst du, doch ausspioniert.«

»Es ist nicht schwer zu erkennen, dass du an ein Mädchen denkst.«

Tigwid verbarg das Gesicht hinter dem Glas und nahm zwei große Schlucke. »Ähm, wie bist du eigentlich zum TBK gekommen? Wo hat Collonta dich aufgegabelt?«

»Ich bin von mir aus zu Collonta gekommen. Das war vor fünf Jahren, ich war vierzehn und habe gesehen, dass ich hierhergehöre.«

»Ach, dann kommst du auch aus dem Waisenhaus?«

»Nein«, sagte Bonni, »ich habe eine Mutter und einen kleinen Bruder. Ich besuche sie noch manchmal.«

Tigwid konnte sich Bonni kaum als Tochter - oder als Schwester - von irgendwem vorstellen. Sie war doch viel zu ... unnahbar. »Wissen sie denn über dein Leben Bescheid? Ich meine, der TBK und alles?«

Bonni zuckte die Schultern. »Sie wissen, wie ich bin ... mehr wollen sie auch gar nicht hören. Es ist alles in Ordnung, wie es ist, denke ich. Ich habe den Platz gefunden, an den ich gehöre, und niemand ist gekränkt.«

Nachdenklich drehte er das Glas in den Händen. Als Kind hatte er sich immer eingeredet, Eltern brächten nur Ärger. Aber dass es mit einer Familie und einem festen Leben, in das man geboren wurde, manchmal tatsächlich schwieriger sein konnte als ohne, verstand er erst seit Kurzem. Was, wenn er einen verrückten Vater hätte wie Apolonia? Oder eine Mutter und einen Bruder, die er wegen seiner Mottengabe verlassen müsste wie Bonni?

Ein lautes Scheppern drang aus einem anderen Zimmer und Bonni erhob sich. Dann waren Schritte im Gang zu vernehmen und einen Augenblick später stürmte ein alter, gebrechlicher Mann auf sie zu.

»Jorel!«

Tigwid konnte es kaum fassen. »Mart?« Es war zweifelsohne Mart, der Obdachlose - der Knopfsammler.

»Wie geht’s dir?«, jauchzte der Alte und ließ sein Bündel von der Schulter fallen. »Alles wieder in Butter, he? Hab mir Sorgen gemacht, aber so einer wie du lässt sich nicht so schnell unterkriegen, nich wahr? Ja, wir sind vom gleichen Schlag, hart wie Backstein und zäh wie Stiefelleder!«

Tigwid lächelte. »Was machst du denn hier? Gehörst du etwa auch zum TBK?«

»Natürlich! Bin ein Geisterherr und treuer Anhänger von Collonta. Ich hätt’s dir viel eher gesagt, wenn ich gewusst hätte ... aber du hast mir ja auch nie gesagt, dass du eine Motte bist!« Das Lachen des Alten war so ansteckend, dass Tigwid mitmachen musste. Ausgerechnet Mart war hier! Und Tigwid hatte ihn immer für ein bisschen verrückt gehalten.

»Ich dachte immer ...« Tigwid räusperte sich. »Die Knöpfe und all das! Natürlich ist das eine geheime Sache des TBK gewesen, nicht? Jetzt kannst du mir endlich sagen, warum du immer so versessen darauf warst.«

Marts zahnloses Grinsen war unverändert. »Wie meinsten das? - Oh, sieh mal, ich hab hier neue Exemplare!« Er drehte sich um und wühlte in seinem Bündel, das, wie Tigwid erkannte, vor Knöpfen fast überquoll. Mit einem verdatterten Blick wandte Tigwid sich an Bonni, die lächelnd die Schultern zuckte. Mart war also doch - einfach Mart.

»Wie ist ... übrigens ... die Wunde verheilt?«, erkundigte sich der Alte, noch immer wühlend. »Ich war mir nicht sicher, ob ich richtig vernäht hab.«

Tigwid wurde aschfahl. »Du hast die Operation durchgeführt?«

»Na klar! - Ah, hier ist das Prachtstück!« Und mit seinen schmutzigen Fingern hielt Mart einen strahlenden Silberknopf ans Tageslicht.

Mit der Zeit lernte Tigwid die Mitglieder des Treuen Bunds besser kennen. Die meisten von ihnen stellten sich als Geisterherren vor - eine besondere Art von Motte, die Tigwid aber niemand genau beschreiben wollte, denn offenbar war Collonta derjenige, an den man sich mit Fragen wandte. Selbst die gesprächige Zhang, die oft zu ihm kam, ihm lesen und schreiben beibringen wollte, mit ihm Karten spielte und sogar ein paar Tricks zeigte, die er noch nicht kannte, wollte Tigwid nicht erklären, was einen Geisterherr oder eine Geisterherrin ausmachte.

»Weißt du - nein, ich kann’s dir nicht erklären. Frag Collonta. Ich könnte dir schon sagen, was es ungefähr ist, aber ich würde es wahrscheinlich so kompliziert ausdrücken oder lauter wichtige Sachen auslassen, dass du mich bloß falsch verstehst. Collonta sagt dir alles, wenn er wiederkommt. Er ist so klug, weißt du. Er ist ein Genie.« Zhangs Augen begannen zu leuchten, während sie die Karten mischte. »Als ich ihn das erste Mal getroffen habe, war ich ein Bankdirektor. Erasmus ist auf der Straße stehen geblieben, hat mich angeguckt und gesagt: ›Was für ein außergewöhnliches Talent! Eine fabelhafte Illusion, wie ich sie noch nie gesehen habe. Darf ich Sie nach Ihrem Namen fragen?‹ Stell dir vor, er hat mich erkannt, er hat meine Illusion erkannt! Dabei hatte mein Bankdirektor einen maßgeschneiderten Anzug plus eine frisch polierte Glatze mit Speckfalten im Nacken, echte Detailarbeit. Später hat Erasmus mir gesagt, er hätte die Magie um mich herum leuchten gesehen. Stell dir vor, jetzt versucht er, mir beizubringen, wie ich auch Tiere schaffe. Und danach leblose Gegenstände! - Oh, hallo Emil!«