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Im Zimmer war der blonde Junge aufgetaucht, den Tigwid bei seinem ersten Erwachen gesehen hatte. Er schenkte ihnen ein Lächeln, lief rot an und machte mit einem Haufen Bretter und Nägel kehrt, um nebenan ein eingebrochenes Fenster zu schließen.

»Was ist seine Gabe?«, raunte Tigwid, sobald Emil aus dem Zimmer war.

»Ich habe keine Ahnung ... das weiß nur Erasmus genau. Manche hier glauben, Emil kann Gedanken lesen.«

Tigwid überlegte rasch, ob er etwas Unfreundliches oder Anstößiges gedacht hatte, als der Junge im Raum gewesen war. Es war nachvollziehbar, wenn sich andere in Emils Gegenwart unbehaglich fühlten - war er vielleicht deshalb so scheu?

»Erasmus sammelt gerne Leute mit außergewöhnlichen Talenten um sich«, fuhr Zhang etwas leiser fort. »Die meisten vom TBK sind natürlich Geisterherren und -herrinnen. Ihre Kräfte sind für unseren Kampf am wichtigsten. Aber deswegen verachtet Erasmus nicht die anderen Talente, im Gegenteil. Wie er sich um Emil kümmert, ist der beste Beweis. Und jeder weiß, wie hoch er Bonni und ihre Visionen schätzt. Oder Rupert Fuchspfennig -«

»- du meinst den Mann mit den braunen Haaren und den ...?«

Zhang zog angestrengt die Brauen zusammen und verwandelte ihr Gesicht in das eines vierzigjährigen Mannes mit dünnem Haar, tiefen Furchen und mausartigen Augen. »Ja, der hier, Fuchspfennig, unser Gelehrter. Er ist zwar ein Geisterherr, aber auch ein Traumwandler, das heißt, er kann seinen Körper verlassen und als Geist wandeln ... ich versuch nicht, dir das zu erklären, das macht Collonta. Jedenfalls ist Fuchspfennig immer bei Collonta. Sie besprechen Philosophie und Parapsychologie und so was. Ich glaube, die beiden sind schon seit Jaaahren befreundet. Nun, und ich bin eine Illusionistin und Collontas beste Schülerin. Die Mitglieder, die keine Geisterherren sind - Emil, Bonni, Fuchspfennig und ich -, wir stehen Collonta eigentlich am nächsten.«

»Was ist mit Loo?«, fragte Tigwid und nahm die Karten in die Hand, die Zhang ihm austeilte.

»Natürlich mag Collonta Loo auch gerne, wer mag sie nicht? Aber sie ist eben eine Geisterherrin.«

Während sie eine Spezialversion von Poker spielten, die Tigwid sich ausgedacht hatte, erzählte Zhang ihm von den anderen Mitgliedern des TBK. Laus zum Beispiel hatte Tigwid erst einmal flüchtig gesehen, als sie vorbeigekommen war, um ihm gute Besserung zu wünschen. Laus war eine hagere ältere Frau mit kurzem weißem Haar und einem Faible für Schals, die sie in großen Mengen um ihre Schultern, ihre Hüfte und ihren mageren Hals geschlungen trug. Laut Zhang gab es drei Sachen, die sie interessierten: ihre Schals, ihre Mottengabe und ihre Katzen.

»Das ist auch der Grund, warum Laus nicht hier wohnt«, erklärte sie. »Sie hat im Norden der Stadt eine Einzimmerwohnung mit zwölf Katzen und ihrem Strickzeug. Wenn ich sie nicht kennen würde, würde ich denken, dass sie verrückt ist. Na ja, ein bisschen verrückt ist sie wahrscheinlich. Aber Erasmus hält unheimlich viel von ihr. Sie strickt auch wirklich ganz beeindruckende Schals.«

Was Zhang über manche andere Mitglieder berichtete, war weniger amüsant. So wie die Geschichte von dem dunklen Mann, den Tigwid ein paarmal hatte vorbeilaufen sehen und den die anderen Kairo nannten. Er war in einem fremden Land mit fremden Bräuchen zur Welt gekommen, doch Motten wurden auch dort nicht akzeptiert, im Gegenteil - als Kairos Eltern die Gabe ihres Sohnes entdeckten, fürchteten sie, die übrigen Kinder könnten sich bei ihm anstecken wie mit einer gefährlichen Krankheit, und schickten ihn zu einem Onkel in die Lehre. Der Onkel war ein frommer Mann, der sein Leben dem Verkauf religiöser Artefakte, ausgiebigen Gebeten und langem Fasten verschrieben hatte und seinen Geiz gerne Genügsamkeit und seine Lieblosigkeit Disziplin nannte. Kairo ertrug viele Jahre die harte Arbeit, die harten Worte und die harten Schläge, mit denen sein Onkel ihn in etwas Besseres zu biegen gedachte. Doch ein Mensch ist kein Eisenklumpen. Er besteht zu neunzig Prozent aus Wasser und das lässt sich in keine Form schlagen. Mit siebzehn war Kairo noch immer so verschlossen, finster und begabt wie einst - die Erziehung seines Onkels hatte diese natürlichen Züge nur noch stärker hervortreten lassen. Er war ein Geisterherr. Ob er wollte oder nicht, er besaß Kräfte, die zerstörerisch und gefährlich und - verführerisch - waren ... Nachts begann er, sich darin zu üben, das Dunkle in ihm zu beherrschen, und errichtete Stück für Stück das mächtige Gebilde, dessen Bauplan er seit seiner Geburt in sich trug. Er machte rasche Fortschritte, bis sein Onkel ihn eines Tages im Morgengrauen beobachtete. Überzeugt, dass Kairo mit dem Teufel persönlich im Bunde sei, prügelte er auf ihn ein und sperrte ihn anschließend in den Keller, wo er für seine Sünden büßen sollte. Sobald Kairo sich von den Schlägen erholt hatte, brach er das Schloss auf - ein Leichtes für einen Geisterherrn -, um das Haus seines Onkels und seine Kindheit und alles hinter sich zu lassen, was ihm nur Qual und Trauer bereitet hatte. Als sein Onkel ihn aufhalten wollte, kam es zum Gerangel. Kairo streckte instinktiv die Hand aus. Ehe er es verhindern konnte, sammelten sich die Kräfte ... er spürte das Zucken in seinen Fingerkuppen, spürte, wie sie durch seine Glieder schossen wie ein kalter Stromschlag und seinen Onkel trafen.

Der Mann schrie auf und fiel zurück. Seine Arme und Beine drehten sich wild in der Luft. Die Gelenke krachten - knack knack! - knack knack! - und die Schreie steigerten sich zu einem unmenschlichen Laut des Schmerzes.

Kairo saß ganz reglos auf dem Boden, keuchend, und starrte seinen Onkel an, der sich nicht mehr bewegte. Ein Zittern lief noch durch seine Finger, dann hatten ihn sein Leben und die Geister verlassen.

Kairo floh noch in derselben Stunde, doch er kam nicht weit. In den verwinkelten Gassen der Stadt, in der er aufgewachsen war, schnappte ihn die Polizei, und er wurde ohne viel Federlesen als Mörder eingesperrt. In jenem Land wurde das Gefängnis mehr gefürchtet als der Strick, denn dort zu landen, tief unter der Erde mit tonnenschweren Gittern und Gestein über dem Kopf, war wie ein lebendiges Begräbnis.

Zwei Jahre - oder waren es drei? - starb Kairo einen langsamen Tod in den Schatten der Einsamkeit. Wie alle Gefangenen litt er an Kälte, Hunger, mangelnder Luft und Bewegung; vor allem aber litt er an dem Wahnsinn, der sich mit all diesem Elend an seine Opfer heranschleicht, ein hinterlistiger Gefährte in einem langen Trauerzug. Kairo sah ein, dass seine Eltern und sogar sein Onkel recht gehabt hatten: Seine Begabung war böses Zauberwerk, und er hatte sie mit seinem Ehrgeiz und seiner Neugier genährt, bis er ihr schließlich die Kontrolle überlassen und sie ihre schwarzen Schwingen nicht nur über ihn - sondern auch seinen Onkel ausgebreitet hatte. Er wusste, dass er dafür bezahlen musste.

Aber was nützt der Gedanke an Gerechtigkeit gegen Wahnsinn ... Nach drei qualvollen Jahren hielt Kairo das Verlies nicht mehr aus. Wenn er jetzt nicht floh und rannte, egal wohin, sei es auch direkt in die Hölle hinab, dann würde er verrückt werden, und kein Licht führt aus dem grellen Funkenspiel des Wahnsinns zurück. Dann wollte er eben nicht büßen - dann wollte er sich eben dem Bösen in ihm ergeben, wenn er dadurch die Sonne, den Mond und Bäume wiedersehen könnte!

Zum tausendsten Mal hatte Kairo den Entschluss zur Flucht gefasst, doch seine Gedanken zerrieselten schon nach Sekunden wie Sandgebilde, sodass er immer wieder vergaß, was er gerade eben noch überlegt hatte. Er musste den Moment nutzen. Die Chance ergreifen. Jetzt!

Für einen Geisterherrn gibt es keine Tür und kein Schloss, das ihn aufhalten kann. Was Kairo drei Jahre von der Flucht abgehalten hatte, war allein das Wissen, dass er sein Leiden verdiente. Aber nun, was zählten da schon Wissen und Denken - das alles zerschmolz unter der Erinnerung an glühende goldene Sonnenaufgänge. Kairo tat, was er seit dem Mord nicht mehr getan hatte, und brach die Kerkertür auf, indem er die Fingerspitzen auf das Eisen legte. In gleichmäßigen, ruhigen Schritten durchquerte er den Flur und stieg die Spiraltreppen empor, auf direktem Weg in seine Freiheit. Zwei Wärter kamen ihm entgegengerannt und Kairo ließ seine dunkle Seite auf sie los. Er sah nicht hin und sah nicht weg, als die Männer starben, auch wenn ihr Tod ihn in noch tiefere Verzweiflung stürzte. Aber seine Gabe war ein tollwütiger Hund: Er konnte ihn lediglich von der Leine lassen, doch ihm keine Befehle erteilen.