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So setzte er seinen Weg aus dem Gefängnis fort und seine Freiheit kostete fünf Männer das Leben. Als er auf die vom Sternenlicht geglättete Straße trat, den Rücken streckte, die Nacht einatmete, trugen seine Füße ihn weiter auf ein Ziel zu, von dem er nur wusste, dass es in der Ferne lag - so fern, dass es vermutlich ein Traum war und nie zu erreichen.

Kairo ging. Er ging und räumte alles aus seinem Weg, was ihn am Voranschreiten hinderte. Tage und Nächte ging er einfach, beobachtete die Lichter des Himmels und das Winken der silbrigen Blätter und die Vögel, die ihr Reich dazwischen hatten. Die Welt war wunderschön. Dann kam er zu einem Hafen und sah das Meer. Wenn er im Land blieb, würde die Polizei ihn weiterverfolgen, und er würde mehr Männer töten müssen. Kurzerhand schlich er sich auf den nächsten Dampfer, der die Küste verließ, und sah zu, wie seine Heimat im grauen Qualm verblasste. Tränen liefen ihm über das Gesicht. Fast war ihm, als könne er sich selbst verblassen sehen.

Das Schiff trug ihn an eine neue Küste, zu einem fremden Land. Was in seiner Heimat sandig, gelb, heiß und trocken war, war hier nebelblau, matschig, kalt und feucht.

Kairo setzte seinen Weg fort, nicht auf der Flucht vor der Polizei, sondern vor seinem eigenen Schatten. Er betrat und verließ große Städte, schlief auf einsamen Straßen und in verwitterten Heiden, durchwanderte ein kleines Gebirge und kam in eine Stadt. Die Reise durch die Natur hatte ihn geschwächt, in einer Stadt aber gibt es immer Abfall, in dem man Essen finden kann, oder leichte Opfer. Nach einigen Tagen raubte Kairo einen Mann aus. Gerade hatte er sich mit dem Geld davongemacht und lief zählend durch die dunklen Gässchen, da trat Erasmus Collonta in sein verlorenes, junges Leben.

Der ältere Herr stand am anderen Ende des Gässchens, eine Hand auf den Gehstock gelegt, die andere auf dem Rücken, und musterte Kairo durch die ausgeblichenen Schatten der Häuser. »Guten Tag. Ich ... sehe dich. - Nein!«

Gerade rechtzeitig hob Collonta die Hand und wehrte Kairos Angriff ab. Kairo starrte ihn an. Das hatte er noch nie erlebt. Offenbar konnte der Alte das, wovon Kairo längst nicht mehr zu träumen wagte: Er konnte das tollwütige Biest zähmen.

Collonta sprach besänftigend auf ihn ein. Sie verständigten sich allmählich und Collonta brachte ihm die ersten Worte in seiner Sprache bei. So erfuhr Kairo, dass er nicht die einzige Motte auf der Welt war, dass man die Gaben beherrschen konnte und der TBK sich im weitesten Sinne um genau das kümmerte: die Kontrolle übersinnlicher Kräfte ...

Tigwid dachte über die Mitglieder des TBK und vor allem die Geschichte von Kairo nach, als Zhang gegangen war, um draußen frische Luft zu schnappen. Obwohl sechs der zehn Anhänger Collontas in der Wohnung lebten, gingen sie ein und aus, als wären sie in den Schatten der Stadt ebenso zu Hause wie in ihren Zimmern.

»Wir sind eben Motten«, hatte Zhang mit einem Grinsen gesagt. »Wir müssen nachts ausflattern und uns unter die Leute mischen. Wer sich abkapselt, findet irgendwann gar keine Verbindung mehr zu den gewöhnlichen Menschen.«

Und Collonta? War er auch in der Stadt unterwegs, um eine Weile zu vergessen, dass er eine Motte und ein gesuchter Terrorist war?

»Blödsinn«, erwiderte Zhang, während sie sich die dichten, langen Haare zu einem Zopf flocht. »Erasmus widmet sich seinen Studien. Er hat soo viel zu tun, der hat keine Zeit zum Rumspazieren.«

Nach einem Augenblick schlüpfte Tigwid aus dem Bett. Er hatte nicht mehr die Ruhe, dazuliegen und den Stimmen seiner letzten Erinnerungen zu lauschen. Mit tapsigen Schritten durchquerte er das Zimmer. Draußen war es Abend geworden; durch das wellige Fensterglas konnte er den Himmel hinter den Hausdächern sehen, wässrig blau und leuchtend wie ein abgetragenes Tuch mit einem Bühnenlicht dahinter. Seufzend blieb er am Fenster stehen. Ihm war, als dringe die Kühle des Abends durch das Glas. Er konnte es kaum erwarten, endlich wieder rauszukommen. Motten müssen nachts ausflattern und sich unter die Leute mischen ... Nachdenklich befühlte er den Verband an seiner Schulter. Irgendwo da draußen, in dem Irrgarten der Backsteinhäuser, Kirchen, Stadtvillen und Fabriken, steckten Apolonia und Vampa. Und er hier drinnen, so unauffindbar, dass er genauso gut am Nordpol sein könnte.

»Du kannst schon aufstehen«, stellte eine Stimme dicht hinter ihm fest. Tigwid fuhr herum. Collonta stand direkt vor seiner Nase. Er hatte nicht gehört, wie die Zimmertür aufgegangen war, dabei konnten die quietschenden Angeln Tote wecken.

»Wie sind Sie reingekommen?«, fragte Tigwid verblüfft.

Collonta antwortete ihm mit seinem eigentümlichen Lächeln. »Wenn du dich wieder kräftig genug fühlst, dann zieh dich an, und ich zeige es dir.«

Tigwid klaubte sein Hemd und einen großen dunklen Wollpullover zusammen, den Fredo ihm besorgt hatte, und streifte beides vorsichtig über. Während er mit einer Hand versuchte, sich Socken anzuziehen, und in seine Schuhe schlüpfte, beobachtete Collonta, wie das Licht im Himmel immer schwächer wurde und seine Spiegelung im Fenster deutlicher. Dann stand Tigwid auf.

Collonta drehte sich um. »Fertig? Haare gekämmt, Ohren geputzt und Unterwäsche gebügelt?«

»Nee.«

»Dann lass uns gehen.«

Collonta führte ihn durch die Wohnung. Sie zwängten sich durch den engen Flur, an der großen, fast leer stehenden Küche vorbei und durch zwei lange Zimmer mit einer eingerissenen Wand. Hier und da führten Türen in die Zimmer von Bonni, Loo, Fredo, Kairo, Zhang und Emil, und im Vorbeigehen zählte Tigwid noch so manch weitere Tür, einige verschlossen, andere verrammelt oder zertrümmert. Ein kleiner Raum war voller Rohre, Bretter und Schutt. Dann trat Collonta in ein Badezimmer, dem die Tür und das Waschbecken fehlten, das aber noch mit einem großen, sehr verstaubten Wandspiegel und einer schiefen Badewanne auf drei Löwenpranken aufwarten konnte. Collonta knipste den Lichtschalter an und in der Badewanne schnurrte ein Büschel Glühbirnen auf. Durch die Reflexion der Wanne wurde der ganze Raum in ein unheimliches Licht getaucht.

»Komm, schau hierher«, ermunterte Collonta Tigwid, der sein kränkliches Spiegelbild betrachtet hatte, und wies auf die kahle Wand gegenüber. Ohne sich umzudrehen, musterte Tigwid die Wand im Spiegel. Die hellgrünen Kacheln waren alle abgefallen und gaben den Blick auf eine Ziegelsteinmauer frei. Collonta schien seine Aufmerksamkeit diesen Ziegelsteinen zu widmen. Schließlich drehte Tigwid sich um und - blinzelte überrascht. Plötzlich war eine leuchtend grüne, kreisrunde Tür auf der Mauer erschienen. Wie hatte er die im Spiegel übersehen können?

»Das«, erklärte Collonta feierlich, »ist der Grüne Ring.«

»Das ist aufgemalt.«

Collonta warf Tigwid einen Seitenblick zu. »Gemalte Bilder sind Illusionen, visuelle Tricks. Unseren Augen wird eine Szene, ein Raum oder ein Gegenstand vorgetäuscht, der nicht existiert. Hier wird dir nichts vorgetäuscht, Tigwid.« Mit einem Nicken wies er zum Spiegel. Tigwid sah hinein. Verwirrt drehte er sich wieder zur Wand. Kein Zweifel, da war die Tür. Aber sie hatte keine Spiegelung.

»Hier ... wird dir nur etwas verschwiegen!«

»Wie funktioniert das? Ist das alles mit Mottengaben gemacht?«

Collonta schüttelte den Kopf und streckte gleichzeitig die Hand nach dem Türknauf aus. »Wir schaffen das Unbegreifliche nicht mit unseren Gaben. Unsere Gaben gewähren uns lediglich Zutritt zum Unbegreiflichen.« Und plötzlich stand die gemalte Tür offen und in der Wand klaffte ein pechschwarzer Eingang.