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Eine Weile beobachtete Tigwid schweigend das träge blinzelnde Bronzeauge. Irgendwo fernab dieser kleinen Wunderhöhle, in der realen Welt, wühlten die Dichter vielleicht gerade in Apolonias Wissensschatz.

»Bitte, erklären Sie mir alles. Wer sind die Dichter und wieso stehlen sie den Menschen ihre Erinnerungen? Und was macht der TBK? Was sind unsere Gaben, können wir dasselbe wie die Dichter? Was sind denn nun endlich Geisterherren?«

»Du stellst diese Fragen zu Recht, Tigwid, und es tut mir leid, dass ich sie nicht eher beantworten konnte. Doch es war viel los in den vergangenen Tagen - hauptsächlich wegen der Dichter. Und wegen eines Mädchens, das du kennst. Ihr Name ist Apolonia Spiegelgold.«

Tigwid spürte einen Kloß im Hals. Weil ihn plötzlich hundert Fragen auf einmal bestürmten, kam ihm keine einzige über die Lippen.

»Fangen wir an: Wer sind die Dichter, und wieso tun sie, was sie tun? Nun. Die Dichter sind eine Gruppe von Motten mit besonderen Fähigkeiten. Im Grunde sind ihre Gaben denen der Geisterherren nicht unähnlich - sie sind sogar fast identisch. Aber das wissen die Dichter natürlich nicht und sie würden es auch nicht glauben wollen. In ihren Augen ist ihre Gabe einzigartig. Dabei ist das Können, das sie entwickelt haben, nichts weiter als eine Verkehrung der Ursprungskraft. Ich werde versuchen, dir zu erklären, was genau diese Kraft ist, doch vorher ein paar Worte zu den Motiven der Dichter. Wieso stehlen sie Erinnerungen? Die Antwort ist einfach und doch für keinen normalen Menschen nachvollziehbar. Den Dichtern fehlt es schlicht und ergreifend an Moral. An Mitgefühl. Sie vernichten Menschen, weil sie es können. Die Faszination ihrer Bücher, die sie ihrer eigenen Genialität zuschreiben, beruht in Wirklichkeit auf der Faszination von Gefühlen und Erinnerungen, die sie irgendwelchen armen Seelen gestohlen haben. Das ist der eine Beweggrund für die Dichter: ihre Selbstliebe, ihre Selbstverherrlichung, getarnt als Liebe zur Kunst. Sie fühlen sich wie Götter, weil sie das Schöne der Menschen aus dem Dunkel ihrer Köpfe herausholen und ins Licht bringen können, wie sie sagen. Diese Narren! Dabei ist die Schönheit der Gefühle gar nicht in jedem Einzelnen gefangen. Wer liebt, der teilt sein Innerstes mit der ganzen Welt.«

Collonta blickte verdrießlich vor sich hin, während er die Lehnen seines Sessels umschloss. Dann wurden die Runzeln auf seiner Stirn tiefer und seine Augen hart. »Aber es gibt noch einen Grund, weshalb die Dichter sich darauf spezialisiert haben, das Innere anderer Menschen auszuschlürfen. Sie haben gelernt, dass sie die Erinnerungen, die Identität - die Begabungen - eines Menschen nicht nur stehlen können, sondern dabei auch sich selbst aneignen ... Wenn ein Dichter eine andere Motte ausraubt, nimmt er sich auch ihre Gabe. Und das ist der springende Punkt. Die Dichter wollen Macht - mehr noch als den Ruhm wollen sie die Herrschaft über die Welt. Darum gibt es auch uns, den Treuen Bund der Kräfte. Wir versuchen, die Menschen vor den Dichtern zu schützen, indem wir uns selbst vor den Dichtern schützen. Denn wenn Nevera oder Morbus oder einer ihrer Lehrlinge unsere Gaben in die Hände bekommt, dann werden sie noch mächtiger. Und immer mächtiger. Bis sie ihre Kräfte nicht mehr verborgen halten müssen und die ganze Welt damit beherrschen können. Es ist schwer, es sich vorzustellen, und ich will am liebsten gar nicht daran denken - doch wir alle sind längst nicht so sicher, wie wir glauben. In unserer direkten Nähe gibt es Menschen, die uns unsere Freiheit von einem Augenblick zum nächsten rauben könnten.« Stille breitete sich nach diesen Worten aus, nur das Ticken der geheimnisvollen Kugel war noch zu hören und das feine Rieseln der Sanduhr.

»Was genau sind nun die Gaben der Dichter und der Geisterherren? Wie funktionieren sie?«

»Siehst du, wir alle werden mit einem Körper geboren. Manche werden schnelle Läufer, andere konzentrieren sich auf ihre geistigen Fähigkeiten und wieder andere zeigen großes Geschick mit den Händen und Augen und werden Künstler. Trotzdem haben alle Fähigkeiten einen Ursprung - den menschlichen Körper, Verstand und Psyche mit eingeschlossen. Im Prinzip bestimmt der Mensch selbst, wer er ist. Und er macht das, was seiner Natur entspricht, denn so soll es sein und nicht anders.

Die Gaben der Motten stellen eine kleine Ausnahme dar. Viele Gaben sind auch mir noch unergründlich, und ich bin mir nicht sicher, ob wir sie je begreifen können - zum Beispiel Bonnis Visionen. Wie kann sie Dinge sehen, die noch nicht eingetreten sind? Es stellt mich vor Rätsel und ... vielleicht ist das auch gut so. Es lässt mich an einen Gott glauben, weißt du. Andere Gaben sind mir schon etwas verständlicher. Zum Beispiel die Gabe der Dichter und die der Geisterherren - ich habe mir ein paar plausible Erklärungen zusammengereimt, auch wenn das natürlich nur Vermutungen sind.«

»Ich würde sie trotzdem gerne hören«, sagte Tigwid.

»Nun. Ich gehe davon aus, dass alle Dinge, die wir irgendwie begreifen oder nachvollziehen können, auf den Regeln der Physik beruhen. Wenn die Mottengaben im Grunde einfach nur Kräfte sind, Energie, die verschiedene Formen annehmen kann, dann muss man sie mit der Physik erklären können. Ich fragte mich also, wie die meisten - wenn nicht alle - Kräfte des Universums entstehen. Die Antwort ist: Magnetismus.«

Tigwid runzelte skeptisch die Stirn.

»Alle Dinge, die größten wie die kleinsten, werden gelenkt durch Anziehungskraft. Der Mond und die Erde - die Erde und die Sonne - alles eine Frage der Anziehung! Genauso in den winzigsten Atomen, wo Elektronen um Neutronen herumschwirren, ohne je dem Bann ihrer Anziehung zu entkommen. Jede Kraft, jede Energie, die wir besitzen oder nutzen oder beobachten können, rührt in ihrem Kern von einer solchen Anziehungskraft her. Ohne sie gäbe es nichts, kein Leben, keine Planeten, kein Universum. Wieso sollten die Mottengaben also eine Ausnahme sein? Nein, ich vermute, dass sie den gleichen Regeln folgen.«

Tigwid starrte den Globus an, der sich unermüdlich um sich selbst drehte. Stockend streckte er die Hand aus und konzentrierte sich ... der Globus hielt allmählich inne. Schließlich drehte er sich in die entgegengesetzte Richtung, langsam und schleppend. Collonta beobachtete das Ganze aufmerksam.

»Und wenn alles eine Frage der Anziehung ist ... wie kommt es dann, dass ich frei darüber verfügen kann, ohne den Globus zu berühren?«, fragte Tigwid leise. Er ließ die Hand erschöpft sinken, und der Globus wackelte ein wenig, ehe er seine gewohnte Runde wieder aufnahm.

Collonta lächelte. »Hier kommt die Elektrizität ins Spiel.«

Tigwid runzelte wieder die Stirn. Die Geschichte mit dem Magnetismus hatte er Collonta gerade noch glauben können - aber jetzt auch noch Strom?

Collonta schien ihm die Zweifel anzusehen und legte die Fingerkuppen aneinander. »Nun, wir können es auch anders nennen. Sagen wir, die Energie, die uns ständig und überall umgibt, die in der Luft schwebt, manchmal in Form von Hitze, in Form von Lärm oder in magnetischen und elektrischen Impulsen. Wenn ich spreche, so stoße ich Energie aus, die in meiner Umwelt weiterexistiert, selbst wenn meine Worte verklungen sind. Und während du dort sitzt und mir zuhörst, gibst du Wärme ab, die nicht nur deinen Körper heizt, sondern auch eine Aura kaum zu spürender, menschlicher Hitze um dich ausbreitet. Diese Energien fliegen frei um uns herum. Und was wir Motten machen - wir können diese Energieströme, die in die Umgebung eingegangen sind, lenken.«