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Etwas zerknittert erschien sie zu ihrer nächsten Unterrichtsstunde. Doch in Apolonias Augen lag ein Funkeln, als die Glasvitrinen aus dem Boden stiegen und Morbus ihr Der Junge Adam überreichte.

»Jonathan?« Sie wandte sich ihm zu, als sie am Tisch saßen. »Ich habe bis jetzt noch nichts von den Gaben des Jungen Adam gelesen. Wann tauchen die auf?«

Er lächelte kühl. »Seine Gaben sind hier.« Er hob die dünnen Finger und klimperte damit in der Luft. »Auch wenn ich sehr freigiebig bin, alles teile ich nicht mit meinen Lesern.«

Apolonia zog eine verdrießliche Miene. »Wenn Sie die Gaben hineingeschrieben hätten, könnten wir sie uns doch alle aneignen! Dann hätten alle Dichter Nutzen davon gehabt.«

»Mach dir darüber keine Sorgen. Jeder von uns schreibt seine eigenen Blutbücher und behält seine Gabenfunde für sich. So ist es außerdem sicherer - sollte ein Blutbuch wieder in die Hände eines TBK-Terroristen fallen, könnte dieser womöglich seine alte Gabe zurückgewinnen. Noch sicherer als ein Buch ist ein Gehirn. Leider passt in Bücher einfach mehr rein.« Er wies auf Der Junge Adam. »Nun, wenn du so weit bist, lass uns beginnen.«

Es war ein dunkler Nachmittag und es hatte aufgehört zu schneien. Still und versunken kamen die Häuser Tigwid vor, als er die Wohnung des Treuen Bunds verließ - schlummernde Riesen aus Beton und Stein, die sich tief in ihre Schneemäntel gemummelt hatten.

Zhang, Fredo und Loo hatten sich angeboten, ihn zu begleiten, doch er wollte sich lieber alleine auf die Suche nach Apolonia machen. Er hatte sich fest vorgenommen, niemanden in Gefahr zu bringen. Außerdem wollte er zuerst mit Apolonia allein sein, denn sie hatten sich viel zu erzählen.

Er vergrub die Hände in den Taschen seines Jacketts. Wie gut, dass er den Wollpullover von Fredo bekommen hatte, denn es war bitterkalt. In den Straßen roch es nach Tee und Gebäck und Tannennadeln. Die Zeit vor Weihnachten stimmte Tigwid immer ganz wehmütig. Es waren immer diese Tage, in denen er am deutlichsten spürte, wie alleine und heimatlos er doch war. Er begegnete nur wenigen Passanten, und die hatten es eilig, nach Hause zu ihren Lieben zu kommen. Irgendwo in einem Hinterhof erscholl der fröhliche Lärm einer Schneeballschlacht. Ein kleiner Junge rief nach seiner Schwester.

Es tat gut, wieder an der frischen Luft zu sein. Obwohl Tigwid sich noch ein wenig schwach fühlte und mit jeder Bewegung, die er mit seiner Schulter machte, ganz vorsichtig sein musste, war er froh, das Bett und die graue Wohnung verlassen zu haben. In den Jahren nach dem Waisenhaus hatte er sich angewöhnt, praktisch ständig draußen zu sein - in dem gemieteten Zimmerchen in Eck Jargo hatte er es höchstens zum Schlafen ausgehalten. Die Stadt war sein Zuhause. Die Straßen, die Marktplätze, die Brücken und die Gassenlabyrinthe, sie alle begrüßten ihn mit einem vertrauten, wenn auch schläfrigen Gesicht. Als er den Fluss erreichte, ergriff ihn ein Schauder. Die Wellen trugen weiße Schaumkronen. Am steinigen Ufer leckte das Wasser gierig den Schnee auf.

Der Kanal wurde bald breiter und kahle Ahornbäume und Birken säumten den Fußweg. Rechts blickten stuckverzierte Hausfassaden auf Tigwid herab und es roch stärker nach Zimt, Kaminfeuern und Punsch. Auf der anderen Straßenseite stieg ein Vater mit seiner kleinen Tochter aus einem Automobil. Der Chauffeur trug einen großen Stapel bunt verpackter Pakete hinter ihnen ins Haus.

Als die Turmspitze einer Kathedrale bei der Biegung des Flusses sichtbar wurde, kletterte Tigwid zum Ufer hinab und lief ein Stück über die flachen Steine. Große Abflussrohre erschienen vor ihm. Er zwängte sich an ihnen vorbei und sprang unter einem Vorhang herabtröpfelnden Wassers hindurch. Vor ihm war alles dunkel und das Rauschen der Rohre vibrierte im Boden. Tigwid zog eine Streichholzschachtel aus seinem Jackett, doch die Hölzchen waren von seinem Sturz in den Fluss aufgeweicht und brachen Stück um Stück, als er sie anzuzünden versuchte. Schließlich gab er es auf und stieg in die Dunkelheit hinab.

»Apolonia?«, rief er, als er die Leiter erreichte. »Vampa?« Seine Stimme hallte unheimlich im niedrigen Raum. Er tastete sich um die Wand herum und stolperte über Vampas Bücher. Unbeholfen befühlte er die feuchte Matratze und rief wieder nach den beiden, doch nur das Quieken von Ratten antwortete ihm. Er tastete sich zurück und war insgeheim froh, den Kanalschacht schnell wieder verlassen zu können.

Draußen kam ihm das Tageslicht grell und flimmernd vor. Erst als er einen Blick in den bewölkten Himmel warf, merkte er, dass es bereits dämmerte. Nach kurzem Zögern brach er zum Haus der Spiegelgolds auf. Gut möglich, dass Apolonia heimgekehrt war. In den vergangenen Tagen hatte er sich mit dieser Möglichkeit besonders angefreundet - bestimmt würde Apolonia es vorziehen, ihren Rachezug gegen die Dichter in Wärme und Sicherheit zu planen. Doch als er beim Haus ihres Onkels ankam, leuchtete kein Licht in ihrem Zimmer. Er wartete eine halbe Stunde auf der Straße, ihr Fenster im Auge. Als die Gaslaterne neben ihm zu knisterndem Leben erwachte, schlich er zum Dienstboteneingang, schob das Schloss per Mottenkraft auf und lief unbemerkt durch die Flure und eine Treppe hinauf. Nach nur einer Verwechslung fand er Apolonias Zimmer, doch es war verlassen. Wenn sie seit jenem Morgen, als sie zu Eck Jargo aufgebrochen waren, nicht mehr hier gewesen war, dann musste alles noch so sein, wie er es zuletzt gesehen hatte. Angestrengt versuchte Tigwid, sich zu erinnern. War das Bett gemacht gewesen? Nein. Aber die Decken konnte auch ein Dienstmädchen geordnet haben. Auf dem Schreibtisch stapelten sich Bücher und Papiere. Tigwid ging auch in den Ankleideraum, obwohl er letztes Mal nicht darin gewesen war. Der Geruch von Lavendel und frisch gewaschener Wäsche erinnerte ihn mit plötzlicher Heftigkeit an Apolonia. Er knipste die Lampe an und ließ den Blick über die dunklen Gewänder wandern. Automatisch streckte er die Hand nach einem Kleid aus, das sich von den restlichen abhob wie ein Farbklecks: Es war jenes schweinchenrosa Kleid, das Apolonia bei der Feier getragen hatte, als sie sich das erste Mal begegnet waren. Tigwid befühlte die Ärmelspitzen und schnupperte verstohlen daran. Ein Lächeln glitt über sein Gesicht. Entweder war Apolonia gezwungen worden, das Ding zu tragen, oder sie hatte an vorübergehender Farbenblindheit gelitten. Seufzend ließ Tigwid den Stoff los und machte das Licht aus. In dem Moment öffnete sich die Zimmertür. Ein Dienstmädchen kam herein und schichtete neues Feuerholz vor dem Kamin auf. Während das Mädchen ein leises Lied summte, schlich Tigwid aus dem Zimmer, lief Flure und Treppen hinab und verlangsamte seine Schritte erst, als er um die nächste Straßenecke gebogen war.

Inzwischen hatte die Nacht Einzug gehalten und warf ihren blauen Schleier über ihn. Mit der Dunkelheit holten ihn immer seine diebischen Verfolgungsängste ein, doch die finsteren Gassen verhießen auch Geborgenheit. Sein Atem leuchtete, als er durch den gleißenden Schein einer Straßenlaterne tauchte. Die leisen, raschen Schritte auf dem Kopfsteinpflaster klangen wie Liebkosungen in der satten Stille. Er musste lange laufen, und die halbe Stunde wurde zu einer halben Ewigkeit, der Weg vom Haus der Spiegelgolds bis ins ärmere Schänkenviertel eine Wanderung durch die schattigen Tiefen der Zeit. Lichter, die aus Häusern blinzelten, verwandelten sich in die verglühenden Sterne einer Galaxie. Als Tigwid die Straßen seines Viertels erreichte, fühlte er sich, als wären Jahre vergangen - seit dem Haus der Spiegelgolds - seit gestern - seit seinem letzten Besuch in den Schänken vor mindestens drei Wochen. Er hatte seitdem Apolonia kennengelernt, den Untergang von Eck Jargo miterlebt, von seinem gestohlenen Glück erfahren, Bekanntschaft mit diversen Polizisten und Zellen gemacht, Mone Flamms Büro verraten, eine Kugel abbekommen und Collonta und den TBK getroffen. Ganz zu schweigen davon, dass ihm das wahrscheinlich größte Wunder der Welt, der Grüne Ring, vorgestellt worden war. Ungläubig schüttelte Tigwid den Kopf, während er an den beleuchteten Tavernen und schemenhaften Gestalten vorbeiging. Vielleicht kam ihm sein Leben wie zehn Leben vor, weil er durch den Erinnerungsraub vergessen hatte, dass die Ereignisse sich tatsächlich immer so überstürzten. Kein Wunder, dass manche Leute da verrückt wurden!