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Aber ein Gefühl sagte Bassar, dass das Mädchen damals nicht gelogen hatte. Natürlich gab es keine Menschen mit magischen Kräften, das stand außer Frage. Aber irgendetwas musste das Mädchen dazu gebracht haben, es zu glauben ... und dann war da ja noch der Junge: Tigwid. Nach dem überraschenden Anruf der kleinen Spiegelgold heute Morgen hatte Bassar die Protokolle noch einmal durchgelesen, in denen die Aussage des Jungen festgehalten worden war. Was er erzählt hatte - von Dichtern, Blutbüchern und gestohlenen Erinnerungen -, hatte doch verblüffende Ähnlichkeit mit dem, was die kleine Spiegelgold am gleichen Tag Bassars Sekretär berichtet hatte.

Er atmete tief die frische Luft ein. Er musste das Mädchen unbedingt noch einmal verhören und sie, wenn kein anderer Kommissar anwesend war, auf Motten ansprechen. Er war gespannt, wie sie auf ihre einstigen Anschuldigungen reagieren würde. Dann würde er sie fragen, ob der TBK vielleicht der verbrecherische Bund von Zauberern sei, vor dem sie so oft gewarnt hatte.

Vielleicht lieber doch nicht, dachte er. Das würde zu gehässig klingen. Aber er konnte einfach kein Mitleid für das Mädchen aufbringen. Er glaubte nicht, dass sie entführt worden war, und er glaubte noch weniger, dass es wirklich eine Terroristenvereinigung gab, die so machtvoll war, wie sie behauptete. Sie verschwieg etwas ... und er würde herausfinden, was. Er würde sich auf alles gefasst machen, und wenn es Terroristen mit Drachenflügeln und Schweineschnauzen waren - er würde dahinterkommen.

Als er den Park verlassen hatte, lief er eine Weile durch die Straßen, lauschte dem friedvollen Lärm der Märkte und beobachtete die geschäftigen Menschen, deren kleine Welten sich hier überschnitten. Dann setzte er sich in ein Café, das er schon oft im Vorbeigehen gesehen hatte, das zu betreten er aber nie gewagt hatte. Es hieß Der Pfefferminzprinz und war ein beliebter Treffpunkt für verliebte Paare, junge Familien und tratschende Tantchen. Seltsam - Bassar hatte die verruchtesten Schänken von innen gesehen, hatte Räuberhöhlen durchsucht, in denen Mord und Totschlag an der Tagesordnung waren, aber er hatte sich bis jetzt nicht getraut, in einen schnuckeligen Gebäckladen zu gehen.

Er setzte sich an einen Tisch, von dem aus er den Platz draußen im Auge behalten konnte und selbst möglichst unbemerkt blieb. Dann wartete er mit der Bestellung und nahm eine Zigarette aus seinem Etui, ohne sie anzuzünden. Er hatte vor, der Qualmerei endgültig zu entsagen. Na ja, Schritt für Schritt.

Um drei nach zwölf klopfte jemand gegen die Fensterscheibe. Es war Betty Mebb. Ein eigentümliches Lächeln lag auf ihrem Gesicht. Wenig später war sie eingetreten und nahm an Bassars Tisch Platz.

»Ich möchte mich noch einmal entschuldigen, dass ich Sie hierherbestellt habe«, begann Bassar, doch Mebb legte fröhlich eine schwarze Aktentasche auf den Tisch und bestellte bei dem Serviermädchen Milchkaffee und eine Nussschnecke. Bassar bestellte Kamillentee und einen Vanillekrapfen, obwohl er nie Tee trank und Vanille nicht ausstehen konnte.

»Ich dachte nur, was ich mit Ihnen besprechen möchte, sollten wir nicht im Polizeipräsidium besprechen. Wir«, er beugte sich näher zu ihr vor und sprach leiser, »wir ermitteln hier zwar nicht auf eigene Faust ... aber ein bisschen schon.«

»Keine Sorge«, sagte Mebb. »Ich leiste Ihnen in jedem Fall Unterstützung. Und wenn Sie vorhaben, den Zusammenhang zwischen nächtlichen Überfällen und der Leuchtkraft von Glühwürmchen zu ergründen, bin ich dabei.«

Bassar war so dankbar und erleichtert, dass er keine Worte fand. Mebb erwartete auch keine Antwort. Sie öffnete die Tasche, zog eine Akte hervor und schob sie Bassar zu. »Ich habe mir erlaubt, unserem Fall einen Namen zu geben: Nocturna.«

Bassar warf ihr einen fragenden Blick zu.

Mebb grinste. »Nocturna wie Nacht. Nocturna wie Nachtfalter, jene Schmetterlinge, die vornehmlich im Schutz der Dunkelheit aktiv sind. Ganz passend, finde ich. Es ist besser, wenn wir diesen hübschen Decknamen für die Motten benutzen. Niemand soll denken, dass wir an Zauberer oder Magie glauben, nicht wahr?«

Er öffnete die Akte und fand eine Abschrift von Tigwids Aussage, eine Zusammenfassung der Zeugenaussage Apolonias und zusätzlich mehrere Zeitungsausschnitte, die sie betrafen; außerdem eine Kopie des Reports über den Brand, den sie in der dubiosen Detektei gefunden hatten. Und eine Mappe, auf der Morbus stand.

»Vor dem Brand in der Buchhandlung hatte Alois Spiegelgold ein Buch aus Morbus’ Sammlung entwendet, hieß es ja in dem Bericht«, erklärte Mebb. »Außerdem sprachen die kleine Spiegelgold sowie der Junge von Dichtern, und Morbus ist ein Schriftsteller - ich habe schon ein wenig in der Stadtbibliothek recherchiert. Er hat vier Bücher veröffentlicht. Die Titel habe ich notiert.«

Bassar überflog die vier Titel. »Der Junge Marinus, Das Mädchen Johanna, Der Junge Severin, Das Mädchen Anne ... dieser Morbus scheint nicht mit viel Einfallsreichtum gesegnet.«

»Dennoch war jedes Buch ein großer Erfolg, er ist längst zu Ruhm und Reichtum gelangt.«

»Wissen Sie, was auffällig ist?«, bemerkte Bassar. »Offenbar geht es in jedem der Bücher um Mädchen und Jungen - um Kinder. Vielleicht steckt der Schreiber ja hinter den Entführungen, die Beschreibung ›intellektueller Psychopath‹ könnte jedenfalls auf ihn passen.«

»Und er hat definitiv etwas mit dem Brand in der Buchhandlung zu tun«, fügte Mebb hinzu.

»Vielleicht gehört er ja zum TBK ...« Bassar unterbrach sich, als das Serviermädchen ihnen Gebäck und Getränke brachte. Als sie wieder alleine waren, biss Mebb herzhaft in ihre Nussschnecke und lächelte, wie Bassar sie selten bei der Arbeit hatte lächeln sehen. »Eine gute Wahl von Ihnen, Der Pfefferminzprinz. Es geht doch nichts über eine hausgemachte Nussschnecke.«

»Nun, zwischen Prinzen und Schnecken schien mir der richtige Ort, um über Zauberer und Motten zu sprechen.« Er klopfte auf die Akte und lächelte ebenfalls. »Ich meine natürlich, über die Nocturna.«

Morbus führte Apolonia in Bereiche des Hauses, die sie noch nie betreten hatte. Nachdem sie eine steile Spiraltreppe hinabgestiegen waren, ging es durch einen nicht enden wollenden Korridor, der immer wieder durch dunkle Doppeltüren unterbrochen wurde. Geheimnisvolle Gravuren waren in das Holz geschnitzt. Apolonia erkannte die Initialen des Hausherrn und darunter ein kleines, geschwungenes N., als hätte jemand später noch eine freche Kritzelei hinzugefügt.

»Wo haben Sie den ... Gefangenen hingebracht?«, fragte Apolonia. Morbus öffnete schwungvoll die Türen und antwortete, ohne sich zu ihr umzudrehen.

»Für unsere Eingriffe habe ich einen speziellen Ort einrichten lassen. Einen ungestörten.«

»Wie haben Sie die Motte gefunden?«, fragte Apolonia, diesmal leiser, obwohl sie im ganzen Flur alleine waren.

»Das ist unsere Arbeit, Apolonia. Wir suchen sie. Was glaubst du, was ich sonst in der Stadt zu schaffen habe?«

Schweigend gingen sie weiter. Der Korridor verwandelte sich in einen katakombenähnlichen Gang mit einer gewölbten Decke, die von Holzbalken gestützt wurde. Vor der nächsten Tür verlangsamte Morbus seine Schritte. Dann öffnete er und sie betraten einen niedrigen Raum mit weiß getünchten Wänden. Es gab kein elektrisches Licht. Nur ein großer Kerzenständer, über und über mit Talgkerzen beklebt, leuchtete auf einem Tisch in der Mitte. Rings darum im Halbschatten standen die Dichter - Manthan, Kastor und Jacobar nickten Apolonia und Morbus zu, Professor Ferol deutete eine Verbeugung an und auch van Ulir und Noor waren anwesend. Aber sie waren nicht allein. Am Tisch saß eine gefesselte und geknebelte Frau.

Morbus schloss die Tür hinter Apolonia. Natürlich hatte sie gewusst, dass sie hier einen Gefangenen sehen würde. Natürlich hatte sie gewusst, dass es nicht unbedingt ein bärtiger, finster dreinblickender Riese sein würde. Und doch erkannte sie in diesem Moment, dass sie nicht auf die tränenerfüllten Augen eines Mädchens gefasst gewesen war, das nur ein paar Jahre älter war als sie selbst.