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»Jesus Maria im Himmel!« Dotti war in wohl jeder Hinsicht unchristlich, aber was das Fluchen anging, war sie religiös geblieben. »Geht es dir gut, Junge?«

Er starrte sie aus seinen toten Augen an, und als er die weißen Lippen öffnete, schimmerte seine Mundhöhle blutrot.

»Ich habe Durst«, sagte er, aber es schien keine Bedeutung zu haben, und Dotti fiel es schwer, ihn zu verstehen, obwohl er klar sprach. Seine Worte waren auf eine merkwürdige und unerklärliche Weise tot. Sie hätten nicht gesprochen werden dürfen, sie waren nicht real - wie eine Erinnerung, die man noch zu hören glaubt, obwohl sie längst vergangen ist.

»Durst?«, wiederholte Dotti. Dann erkannte sie es, es fiel ihr wie Schuppen von den Augen: Der Junge im Dreck war ein Vampir.

Vor Schreck war sie wie gelähmt. Hundert Geschichten bestürmten sie auf einmal. Dotti war in einem Zigeunerzirkus aufgewachsen und sie hatte die Warnungen der alten Wahrsagerinnen nie vergessen. Vampire und Motten hatten die Albträume ihrer Kindheit besiedelt und ein Großteil ihres Aberglaubens war ihr über die Jahre des Erwachsenseins erhalten geblieben. Nun da der bleiche Junge zu ihr aufstarrte, zweifelte sie keine Sekunde daran, dass er ein Vampir war oder zumindest etwas ähnlich Unmenschliches.

»Wer bist du?« Ihre Stimme schwankte. In der rechten Hand hielt sie bereits die kleine Pistole aus ihrer Handtasche, aber sie wusste, dass gewöhnliche Waffen Dämonen keinen Schaden zufügten.

»Du musst mir helfen«, sagte der Junge monoton. Es war keine Bitte, kein Befehl. Sein Gesicht spiegelte nichts wider. Er erhob sich aus dem Dreck und blieb geduckt an der Mauer stehen. »Hilf mir.«

Schreckensbleich erkannte Dotti, dass ihm Tränen aus den Augen strömten. Silbrige Rinnsale zogen sich über seine schmutzigen Wangen, Tropfen sammelten sich an seinem Kinn und perlten auf seine zerknitterten Kleider.

»Es sind schon zwei Jahre vergangen. Sieh mich an. Wie alt bin ich?«

»Bist du ein Vampir?«, hauchte Dotti.

»Was?« Der Junge hatte sie nicht gehört. Noch immer strömte das Wasser aus seinen Augen.

»Vamp... Vampi...«

»Kennst du mich? Kennst du mich? Ist das mein Name?« Er machte drei Schritte auf sie zu. »Heiße ich so? Vampa

»Bist du ein Mensch?«, flüsterte Dotti.

Nur die Tränen bewegten sich auf seinem Gesicht. »Ich weiß nicht. Du musst mir helfen, es herauszufinden.«

Sie nickte zerstreut. Man durfte Geister nicht verärgern. »Ja«, hörte sie sich flüstern. »Ja, ist gut. Ich helfe dir. Ich tue, was du willst.«

Eine halbe Stunde später saß sie mit dem Vampir in einem Hinterzimmer von Fräulein Friechens Teestube und zündete eine Petroleumlampe an. Seine Haut schimmerte im Licht wie Wachs.

»Welchen Tee magst du?«, fragte Dotti. Sie hatte sich einigermaßen gefasst. Wenn man so lange wie sie unter Dieben, Verbrechern und anderem gefährlichen Gesindel lebte, gewöhnte man sich an die schlimmsten Situationen - und auch das Gespräch mit einem toten Jungen verlor schnell an Schrecklichkeit.

»Ich weiß es nicht«, sagte Vampa.

»Was schmeckt dir am besten?«

»Ich weiß nicht.«

»Na ... dann probier mal Pfefferminz.«

»Was bedeutet das, schmecken?« Er sah sie an, und Dotti war nicht sicher, ob er eine Antwort erwartete. »Ich weiß nicht, was schmeckt, was nicht schmeckt, was schön ist, was hässlich ist. Ich habe keine Meinung. Alles ist einfach da. Ich bin einfach da.«

Dotti ließ sich langsam auf den Stuhl ihm gegenüber sinken.

»Ist etwas, das nicht schön ist, nicht hässlich, nicht groß und nicht klein, nicht laut und nicht leise - ist das etwas Echtes?« Wie Trugbilder zerfielen seine klanglosen Worte.

»Also, etwas, was nicht irgendwie ist, das gibt es nicht, würde ich sagen«, murmelte Dotti.

Der Junge sah sie an. Seine Augen füllten sich erneut mit Tränen, die nichts mit ihm zu tun zu haben schienen. »Dann gibt es mich nicht. Ich bin nichts ... Ich, ich glaube, irgendwo da draußen existiert etwas, das einen Schatten wirft. Und der bin ich.«

»Ein Schatten?«, wiederholte Dotti verwirrt.

»Ich brauche Hilfe«, sagte Vampa. »Ich muss ... lesen lernen.«

»Lesen?«

»Ich muss ein Buch lesen, das ich noch nicht gefunden habe. Kennst du jemanden, der mir hilft, lesen zu lernen?«

Dotti schluckte schwer. »Ich brauch jetzt erst mal einen Schnaps«, murmelte sie, änderte ihre Meinung jedoch und holte eine Pralinendose hervor, die sie zwischen sich und den Vampirjungen stellte.

»Noch besser. Nimm dir hier was.« Wenn sie eines von ihren Eltern gelernt hatte, dann, dass Schokolade einen weitaus größeren Beruhigungseffekt besaß als Alkohol. Sie öffnete die Dose und steckte sich gleich vier Nougattrüffeln auf einmal in den Mund.

»Vampa, hast du gesagt, heißt du?«, nuschelte sie und schob sich die klebrige Schokolade in beide Backen. »Passt ja. Also, gibt es eigentlich ein Leben nach dem Tod?«

Der Junge nahm sich eine Nougattrüffel und nagte ein winziges Stück ab. »Die Frage«, sagte er tonlos, »ist, ob es einen Tod gibt ohne Leben.«

Dotti begriff nicht. Erst in den nächsten Wochen würde sie anfangen zu verstehen.

Sie suchte einen Mann, der in ihrer Schuld stand, als Lehrer für Vampa aus. Der Junge lernte eifrig. Dotti sah ihn niemals schlafen, niemals essen, mit keiner Menschenseele sprechen. Pausenlos las er und lernte die Buchstaben und ihre Klänge auswendig. Als er versuchte, selbst zu schreiben, führte er die Feder wie ein Gelehrter und brachte ein wunderschönes M zu Papier.

Sein Lehrer fürchtete sich vor ihm. Immer wieder wollte er von Dotti wissen, wer der Junge war, bis sie ihm endlich sagte, er sei der Sohn eines verstorbenen Freundes.

»Nein«, antwortete der Mann plötzlich. »Dieser Junge ... ist kein Junge! Er ist nicht menschlich!«

»Das sagt der Richtige, ein Mörder, der sich für jeden neuen Kopf einen Strich in den Arm ritzt!«

Darauf schwieg der Mann. Nach einer Weile brauchte Vampa ihn nicht mehr. Er lernte das Lesen innerhalb von wenigen Wochen, als würde er lediglich etwas wiederentdecken, das er einst verlernt hatte.

Dotti verlor ihre Angst vor dem Jungen nicht: Nie würde sie wagen, ihn fortzuschicken oder ihm einen Wunsch abzuschlagen. Sie nahm ihn hin, wie man einen Geist hinnimmt, der in einem Haus spukt. Allerdings verwarf Dotti den Verdacht, er sei ein Vampir; denn er bewegte sich im Sonnenlicht und wich den Menschen eher aus, als dass er sie anfiel. Auch auf die Knoblauchzehen, die Dotti überall versteckte, reagierte er nicht. Und doch, er war kein Mensch, das war gewiss. Dotti fand sich mit der Erklärung ab, dass er ein Dämon war, gefangen im Körper eines Jungen. Sie stellte keine Fragen, als er zu essen aufhörte, sagte nichts, als er nach jedem Boxkampf, in dem sie ihn kämpfen ließ, halb tot ging und am nächsten Morgen unversehrt zurückkam; sie wollte nicht wissen, welchem geheimnisvollen Ziel er nachhetzte und aus welchem Schlupfwinkel der Hölle er stammte. Sie blickte blind an allem vorbei, als er sich über die Jahre hinweg nie veränderte und nach sieben Jahren noch der unheimliche Vierzehnjährige war, den sie an jenem unglückseligen Herbsttag im Dreck gefunden hatte. Dotti führte ihr Leben fort, als wäre nie etwas geschehen.

Nur ihr Schokoladenkonsum erhöhte sich.

Drei Monate lang hatte Vampa keinen Bissen zu sich genommen. Zuletzt hatte er sogar aufgehört zu trinken.

Das war vor sieben Jahren gewesen, als er das erste Mal versucht hatte zu sterben. Es waren bereits zwei Jahre vergangen, seit er am Straßenrand erwacht war, ohne Erinnerung und Identität. Zwei Jahre lang hatte er sich nicht verändert ... Jede Nacht geschah es: Sein Haar wuchs zu seiner alten Länge zurück, egal wie kurz er es abgesäbelt hatte. Alle Verletzungen heilten, alles wurde rückgängig gemacht, es war wie eine unheilvolle Ebbe, die das Meer nach jeder Flut wieder zurückzieht. Vampa hatte keine Macht über seinen Körper. Doch er konnte entscheiden, ob er aß.