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»Lass dich nicht von dem aus der Ruhe bringen, was du siehst«, murmelte Morbus, als die junge Frau ächzende Geräusche von sich gab und sich so heftig bewegte, wie ihre Position es zuließ.

»Was will sie mir sagen?«, brachte Apolonia endlich hervor. Ihre Stimme klang fremd im niedrigen Raum.

»Oh, wahrscheinlich, dass du die Seite wechseln sollst und der TBK ganz und gar unschuldig ist und sie obendrein«, bemerkte Morbus leichthin und setzte eine sorgenvolle Miene auf. »Wir haben absichtlich ein junges und unerfahrenes Mitglied des TBK für dich ausgesucht. Wundere dich also nicht, wenn du noch nicht so viel Grausamkeit in ihr findest. Dafür wird es dir nicht schwerfallen, in ihre Erinnerungen einzudringen und dir ihre Gabe anzueignen.« Sanft schob er Apolonia auf den Tisch zu und drückte sie auf den Stuhl gegenüber dem Mädchen. Vor ihr befanden sich ein aufgeschlagenes Lederbuch mit leeren Seiten, ein Fässchen mit dunkelroter Flüssigkeit und eine Feder.

»Aber - wie?«

Morbus ging neben ihr in die Hocke. »So wie du in die Geister der Tiere eindringst. Nur dass du jetzt nicht versuchen wirst, einen Gedanken von dir zu vermitteln, sondern einen von ihr zu bekommen. Habe Vertrauen. Dir kann nichts passieren. Und wenn du fertig bist ...« Er blätterte durch das leere Buch und lächelte. »Dann bist du wirklich eine Dichterin. Das erste weibliche Mitglied, wenn man es genau nimmt, da Nevera nie selbst ein Buch geschrieben hat.«

Apolonia nahm die Feder in die Hand. Morbus zog sich zu den anderen Dichtern ins Dunkel zurück. Sekunden verstrichen, bis Apolonia sich endlich dazu zwingen konnte, der Terroristin in die Augen zu blicken. Sie versuchte, trotz ihres Knebels zu sprechen, und verzog das Gesicht vor Verzweiflung. Apolonia tauchte die Feder ins Fässchen. Ein Tropfen Bluttinte fiel auf den Tisch, denn ihre Hand zitterte. Dann schrieb sie unsäglich langsam, in ihrer schönsten Schrift, auf die zweite Seite des Buches:

Von Apolonia Magdalena Spiegelgold.

Das Erste Buch.

Sie hielt inne. Sie brauchte jetzt den Namen der Terroristin. Nach einem kurzen inneren Kampf sah sie ihr abermals in die Augen, und diesmal tauchte sie direkt hinein, als wäre ihr Gegenüber ein Tier; fast gewalttätig riss sie die unsichtbare Mauer der Distanz zwischen ihnen nieder und verdrängte jegliche Einwände ihres Anstands. Wäre sie in eines Fremden Schlafzimmer eingedrungen oder hätte plötzlich unter den nackten Arm von jemandem gegriffen, hätte der schamlose Kontakt nicht intensiver sein können. Die Terroristin starrte sie an, endlich verstummt, und Apolonia starrte zurück; auf einen Außenstehenden mussten sie wie hypnotisiert wirken, doch nichts lag der Realität ferner. Als Apolonia in den fremden Geist eintrat, brach eine Flutwelle des Entsetzens, der Angst und Verzweiflung über ihr zusammen. Wenn sie bei Tieren solche Emotionen erfühlt hatte, war sie rasch zurückgewichen, doch nun stieß sie noch weiter vor. Bilder durchzuckten sie. Sie sah dunkle Gestalten, die in einer Ecke über sie herfielen, sie fesselten und verschleppten; sie sah verwischte Gesichter und im Hintergrund Straßen und einen Markt; es roch nach Leder und nach Schnee; mehrere Stimmen überlagerten sich und barsch gerufene Worte erklangen in scheinbar wahlloser Abfolge. Apolonia wühlte in diesem Meer aus Informationen, sie erstickte und ertrank fast daran. Wenn sie nur wüsste, wie sie ... Und über alldem lagerten die gegenwärtigen Panik und Verzweiflung des fremden Geistes wie ein schriller Schrei!

Dein Name!, befahl sie. Dein Name!

Hundert verschiedene Stimmen riefen ihr die Antwort zu, mal fragend, mal lachend, wütend oder traurig. Da waren Kinder, die sie anblickten und riefen: Loo! Und ein alter Schuhputzer, der sagte: Loreley, komm her, Tochter! Und ein junger Mann, der in der Erinnerung strahlte und seufzte: Loreley ... ach, Loo! Meine Loo ... Apolonia spürte, wie die Feder zu schreiben begann, als führe sie ihre Hand und nicht umgekehrt. Dann sog sie die hundert Stimmen und Erinnerungen aus dem fremden Geist ein; die Kinder, den alten Vater, den Liebsten, alle, alle, alle, bis sie sich zu einem einzigen, schmerzerfüllten, lang gezogenen Loreley! vereinten.

Und das wilde Meer beruhigte sich. Gebirge aus aufschäumenden Erinnerungen fielen in sich zusammen und machten einer weiten blauen Wüste Platz. Auf dem Papier stand:

Das Mädchen Loreley.

Dunkelheit

Die Tür wurde aufgestoßen und ein blutüberströmter Fredo stürzte in die Wohnung. »Loo! Wo ist sie - wo ist Loo?«

Tigwid, Bonni, Zhang, Emil und Mart kamen ihm entgegen. Bei Fredos Anblick schnappte Tigwid nach Luft: Quer über seinen Nasenrücken ging ein Riss und Blut tropfte ihm auf die schmutzigen Kleider. »Wo is sie«, keuchte er und packte einen nach dem anderen an den Schultern.

»Sie war doch mit dir unterwegs!«, erwiderte Zhang. »Ich dachte, ihr wollt die Spiegelgold suchen!«

»Sie ist nicht hier?«, schrie Fredo, und nun benetzten auch Tränen sein Gesicht. »Aber - hier ist der Treffpunkt, falls man sich verliert, hier ist es abgemacht, hier -«

»Beruhige dich! Erzähl uns, was passiert ist.« Bonni schloss die Tür und zog Fredo in die Küche, wo sie versuchte, ihm das Blut abzuwischen und ein Taschentuch ins Nasenloch zu stecken. Mit einem Schmerzenslaut wandte Fredo sich ab. Dann unterdrückte er sein Schluchzen und begann zu erzählen:

»Wir waren auf dem Ledermarkt am Domplatz, als wir zwei Dichter gesehen haben, der kleine, dunkle Jacobar und sein ewiger Begleiter, dieser milchgesichtige Manthan. Wir beschlossen, ihnen zu folgen und sie zu überfallen, um Apolonias Aufenthaltsort aus ihnen herauszupressen. Die beiden sind immer schneller gelaufen und plötzlich waren sie in der Menge verschwunden. Und dann - auf einmal waren sie alle um uns herum, die Feiglinge. Einer hat mir seinen Gehstock auf die Nase geschlagen, ich bin runter auf die Knie. Als ich hochgeguckt habe, haben sie Loo weggezerrt und - und ich hinterher und dann, Loo hat sich befreit und ist in eine Gasse geflohen, ich in die andere Richtung, um sie abzulenken. Später bin ich zurückgerannt und hab nach ihnen gesucht, aber von den Dichtern keine Spur. Und Loo ... ich dachte, sie wäre hierhergekommen.«

Eine Stille folgte Fredos Worten, die alle zu ersticken schien. Schließlich schluckte Mart und legte behutsam eine Hand auf Fredos Schulter. »Ich sage, wir warten eine Stunde auf Loo. Wenn sie nicht kommt ... müssen wir das Schlimmste annehmen.«

Bonni schien noch blasser als sonst. »Ich packe die notwendigen Sachen zusammen. Zhang, Emil - ihr helft mir und vernichtet alles, was nicht mitgenommen werden kann.«

»Wieso, was habt ihr vor?«, fragte Tigwid.

»Wenn Loo ...« Bonni warf Fredo einen aufgewühlten Blick zu. »Wenn sie nicht kommt, ist sie bei den Dichtern. Sie werden alle Informationen aus ihr herausschreiben, die sie brauchen, um uns zu finden.« Sie wandte sich an Mart und sagte: »Nimm den Grünen Ring und gib Erasmus und den anderen Bescheid. Tigwid - pack auch du deine Sachen zusammen.«

»Ich habe nichts außer dem, was ich trage.«

»Dann bleib bei Fredo«, murmelte Bonni und lief mit Emil und Zhang aus der Küche.

Schweigend stand Tigwid da und beobachtete Fredo. Schließlich räusperte er sich, um seine Stimme zu finden, und sagte: »Ich glaube, deine Nase ist gebrochen. Darf ich?« Er nahm Bonnis Taschentuch vom Tisch und stoppte damit den Blutfluss. »Leg den Kopf zurück.«