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»Niemand hier«, sagte der verantwortliche Kommissar. »Eine leer stehende Wohnung wie alle anderen in diesem Haus. Wir konnten zwar feststellen, dass im Ofen Feuer gemacht wurde und jemand in den Betten geschlafen hat, aber das können auch Bettler oder Straßenkinder gewesen sein. Deshalb würde ich Sie gerne fragen, wie Sie zu der Annahme kommen, dass das hier ein Versteck des TBK ist.«

Obwohl der Kommissar Morbus angesprochen hatte, antwortete ihm Apolonia: »Wir haben vor zwei Stunden einen Anruf vom Treuen Bund erhalten. Sie sagten uns, wenn ich nicht zu einem sofortigen Treffen mit ihnen in diese Wohnung käme, würden sie eines ihrer Entführungsopfer, eine junge Frau namens Loreley, so lange quälen, bis sie in einen Zustand geistiger Verwirrung geriete. Wenn Sie erlauben, würde ich mich gerne hier umsehen.«

Der Kommissar starrte sie verblüfft an, gab ihr aber wortlos den Weg frei. Apolonia durchquerte einen schmalen Korridor und mehrere Räume. Löcher klafften hier und da im Fußboden, in den Wänden und in der Decke; lose Bretter und Ziegelsteine lagen in den Ecken und Zeitungen klemmten zum Isolieren in den Ritzen der Fenster. Neben einem Bett lag schmutziges Verbandszeug. In der Küche standen mehrere Polizisten beieinander und durchsuchten die Schränke. Apolonia ging weiter, bis sie ein Badezimmer entdeckte. Eine Badewanne, der ein Fuß fehlte, und ein großer Spiegel waren die einzigen Gegenstände im Raum. Apolonia trat vor den Spiegel und knipste einen Lichtschalter an - in der Wanne surrte ein Büschel Glühbirnen auf. Wie geisterhaft sie im Licht aussah! Unwillkürlich legte sie die Hand auf die kühle Spiegelung. War das wirklich sie? Die eisigen Augen, der verhärtete Mund kamen ihr nur vage bekannt vor, als hätte sie das Mädchen im Spiegel einmal flüchtig auf der Straße gesehen.

Im gleichen Spiegel hatten sich noch vor wenigen Stunden ihre Feinde gesehen. Apolonia glaubte ihre Gesichter hinter ihrem zu erkennen, höhnisch und boshaft wie die der beiden gefassten Terroristen aus der Zeitung. Sie ballte die Fäuste. Der TBK hatte gewusst, dass die Polizei herkommen würde. Und sie hatten lediglich ihren Dreck zurückgelassen, um Apolonia zum Gespött der Blauröcke zu machen!

Sie drehte sich um und versetzte der Mauer gegenüber einen Tritt. Dann erst bemerkte sie die grüne Tür, die auf die nackten Ziegel gemalt war. Verwirrt blickte sie in den Spiegel zurück - von der Tür war nichts zu sehen. Wie konnte das sein? Sie rieb sich die Augen, doch es war keine Täuschung. Das hieß - natürlich war es eine Täuschung, ein boshafter kleiner Trick des Treuen Bunds. Ein Schauder jagte ihr den Rücken hinab, als sie die Absicht dieser List erkannte ... Der Bund wollte der Polizei einen Hinweis geben - sie wollten das Geheimnis der Motten mit der Zaubertür verraten.

Aus der Küche drangen die Stimmen der Blauröcke zu ihr. Besteck klirrte, als sie die Schubladen ausleerten. Panisch versuchte Apolonia, den Wasserhahn der Wanne aufzudrehen, doch es kamen nur ein paar braune Tropfen heraus. Also zog sie ihren Mantel aus und begann, damit das falsche Bild abzuwischen. Die Tür war mit bunter Kreide gemalt, doch kein Stäubchen löste sich von den Ziegeln. Schließlich gab Apolonia auf, packte eines der Rohre, die herumlagen, und zertrümmerte den Spiegel. Der Lärm lockte die Polizisten an. Als sie Apolonia zwischen leuchtenden Scherben stehen sahen, ein Rohr in der einen und ihren zusammengeknüllten Mantel in der anderen Hand, schien die gemalte Tür niemanden besonders zu interessieren.

»Ich habe dahinter einen Durchgang vermutet«, erklärte Apolonia und ließ das Rohr fallen. Inzwischen war sie eine Expertin darin, Polizisten anzulügen.

Tigwid wurde bald klar, dass sie sich nur an einem Ort befinden konnten: dem berüchtigten Untergrund, den er zum ersten Mal mit Vampa bei ihrer Flucht aus Eck Jargo betreten hatte. Mart führte sie durch endlos lange Tunnel, durch die sie geduckt laufen mussten und die von schummrigen Lampen oder Fackeln oder manchmal gar nicht beleuchtet waren. Dann stiegen sie zwei Feuertreppen hinauf, liefen durch einen feuchten Kanal und erreichten steinerne Arkaden, die bestimmt zehn Meter hoch waren und an versunkene Paläste erinnerten. Tigwid stellte sich vor, wie die Wächter dieser machtvollen Welt ihr Geheimnis schützten. Es musste mehr Menschen das Leben kosten als die Geheimhaltung von Eck Jargo - schließlich schien dieser Ort nicht so, als könnte sich ein wohlhabender, abenteuerlustiger Familienvater mit gewissen Kontakten hier einen kurzweiligen Besuch erkaufen wie einst in Dottis Reich. Der Untergrund war keine vorgegaukelte Halunkenwelt, kein Gruselkabinett mit Faustkämpfen und Tänzerinnen - wer hierherkam, suchte keine Unterhaltung, sondern ein wirkliches Versteck, ein Grab für Lebende.

Hin und wieder machte Tigwid Gestalten im Halbdunkel aus, doch sie zogen sich zurück, sobald sie sie bemerkten. Hier legte niemand Wert auf Gesellschaft. Schließlich erreichten sie ein niedriges Zimmerchen mit Erdwänden, das nur durch ein Kanalloch und eine Leiter zu erreichen war. Bonni und Emil zündeten mehrere Öllampen an, sodass der Raum sich erhellte. Es gab mehrere Schlaflager, eine offene Feuerstelle mit einem Topf darüber und sogar einen Wasserhahn. Notfalls konnten sie sich hier für unbestimmte Zeit verborgen halten, doch Tigwid hoffte inständig, dass es nicht so weit kam.

Auf eine Wand war der Grüne Ring gemalt, so wie im Badezimmer der Wohnung. Nachdem Tigwid Bonni, Emil und Mart beim Auspacken ihrer Habseligkeiten geholfen hatte, stellte er sich davor und musterte die runde Tür. »Wie öffnet man sie eigentlich?«

»Du musst dir vorstellen, was dahinter ist«, antwortete Emil scheu.

»Du weißt doch, wie es mit Wundern ist«, sagte Bonni und lächelte das erste Mal, seit Fredo blutend in die Wohnung gestürmt war. »Man muss an sie glauben, damit sie wahr werden. Aber benutze den Grünen Ring nicht jetzt. Wir erwarten die anderen.«

Mart hatte mehrere Konservendosen mitgebracht und sie machten sich Linseneintopf. Als sie fertig gegessen hatten, redeten sie über den Vorfall, sprachen ihre Befürchtungen aus und machten sich gegenseitig Hoffnung. So verstrich die Zeit. Tigwid befühlte nachdenklich seine Schusswunde - das war inzwischen eine Angewohnheit geworden - und freute sich, wie gut sie schon verheilt war. Dann legten sie sich zum Schlafen, damit die Zeit schneller verflog. Als er den anderen den Rücken gekehrt hatte, holte er den Zeitungsartikel mit Apolonias Bekenntnis hervor, den er seitdem gefaltet in der Innentasche seines Jacketts trug. Mit Zhangs Hilfe hatte er ihn Wort für Wort entziffert, nachdem der Graf ihn ihm vorgelesen hatte; nun konnte er ihn fast auswendig. Er betrachtete Apolonias Gesicht und versuchte, sich vorzustellen, dass sie sich tatsächlich den grausamen Dichtern angeschlossen hatte. Sie musste irgendwie manipuliert worden sein. Schließlich wusste sie doch, dass nicht der Treue Bund, sondern die Dichter Kinder entführten, um ihnen die Erinnerungen zu stehlen! Aus freien Stücken würde sie niemals das Gegenteil sagen ... Tigwid atmete tief aus. Er wollte gar nicht daran denken, mithilfe welcher Methoden man Apolonia in ein Instrument von Morbus’ Machenschaften verwandelt hatte.

Er erwachte durch Geräusche und steckte sich den Zeitungsausschnitt eilig ins Jackett. Auch Emil, Bonni und Mart richteten sich auf: Collonta und die anderen traten soeben durch den Grünen Ring. In ihrer Mitte trugen sie die bewusstlose Loo. Tigwid, Mart, Emil und Bonni machten Platz, damit sie Loo auf die Decken legen konnten. Obwohl sie nichts wahrzunehmen schien, flatterten ihre Lider, und das Weiß der Augäpfel war sichtbar. Bonni hatte bereits ein feuchtes Tuch geholt und gab es Fredo, der damit Loos Gesicht abtupfte. Viel mehr konnten sie nicht tun und der Schmerz über die Hilflosigkeit stand Fredo deutlich in die Augen geschrieben.