»Sie ist so, seit wir sie gefunden haben«, sagte Collonta und schüttelte betrübt den Kopf. Als Tigwid ihm einen fragenden Blick zuwarf, fuhr Collonta fort: »Sie haben sie in einem Hauseingang liegen lassen, nahe unserer Wohnung. Offenbar sind sie zu uns aufgebrochen und haben sich ihrer auf dem Weg entledigt.«
»Wird sie überleben?«, fragte Tigwid so leise, dass Fredo ihn nicht hörte.
Collonta stützte sich schwer auf seinen Gehstock und betrachtete das Mädchen. »Sie wird nicht mehr dieselbe sein. Danach sind sie nie mehr dieselben.«
Emil öffnete noch mehr Konservendosen, und sie aßen gemeinsam zu Abend, während Loo in eine Art Fieberschlaf sank. Hin und wieder murmelte sie unverständliche Worte, führte ruckartige Bewegungen aus oder verzog das Gesicht zu Grimassen - mal in Verzweiflung und Schmerz, dann lachte sie lautlos oder rief wirres Zeug.
Laus war vor einer halben Stunde gegangen, um, wie sie behauptet hatte, ihre Katzen zu füttern. In Wahrheit, so vermutete Tigwid, konnte die etwas exzentrische Geisterherrin die Umgebung nicht ausstehen und machte sich deshalb so schnell wie möglich davon. Er konnte es ihr nicht verdenken. Die schummrige Dunkelheit und das Wissen, fünfzig Meter unter den Straßen in gruftähnlichen Katakomben zu sitzen, wo einen niemand außer den gefährlichsten Banditen finden konnte, waren nicht unbedingt Balsam für die Seele. Abermals streifte Tigwid die Hoffnung, dass dies nur ein vorübergehender Unterschlupf für sie sein würde. Er vermisste jetzt schon den Himmel. Vielleicht hätte er Mart und Kairo begleiten sollen, die mit Laus aufgebrochen waren, um die Lage in ihrer Wohnung zu erkunden.
»Sie haben ihr nicht alles genommen«, bemerkte Zhang und wies auf die Schlafende. »Sieht so aus, als wäre Loos Gehirn dabei, die durcheinandergebrachten Erinnerungen zu ordnen. Das heißt, sie hat wenigstens noch welche.«
Fredo schien nicht besonders aufgemuntert. Schon seit einigen Minuten rührte er geistesabwesend in seinem Linseneintopf, ohne einen Bissen zu nehmen.
»Aber ihre Gabe hat sie bestimmt nicht mehr«, murmelte Rupert Fuchspfennig düster und schob sich die Brille zurecht. »Die Dichter lassen ihre Opfer doch nur am Leben, um uns zu verspotten. Sie werfen uns die ausgehöhlte Frucht zu, nachdem sie das kostbare Innere herausgeholt haben.«
Collonta nickte ihm zu. »Sie war eine so begabte Geisterherrin.«
Plötzlich senkte Fredo seine Schüssel. Ohne jemanden anzusehen, knurrte er: »Tut nicht so, als wäre sie tot. Loo lebt. Und sie ist alles andere als eine ausgehöhlte Frucht!«
Fuchspfennig schluckte hörbar.
»Rupert hat es nicht so gemeint«, beschwichtigte Collonta ihn. »Wir sind alle so erschüttert wie du, Fredo. Du bist nicht der Einzige, der sie liebt! Ruperts Bemerkung war rein politisch gemeint.«
»Politisch!« Fredo spuckte das Wort aus. Einen Moment sah es so aus, als wolle er noch mehr sagen, und die Luft schien aus dem Raum zu weichen; doch dann stieß er bloß ein Grollen aus, erhob sich und setzte sich neben Loos Lager. Eine Weile herrschte Schweigen. Nur das Klappern der Löffel und Schüsseln war zu hören.
»Wenn Apolonia die Seite wechseln und zu uns kommen würde ... was würden wir denn dann eigentlich tun?« Noch während Tigwid die Frage aussprach, merkte er, dass dies nicht der rechte Zeitpunkt gewesen war. Momentan schien niemand, nicht einmal Zhang, dazu aufgelegt, irgendwelche unwahrscheinlichen Möglichkeiten weiterzuspinnen.
»Wir würden die Verbrechen der Dichter verhindern«, sagte Collonta schlicht und nahm einen Löffel Linseneintopf.
»Ja, ja, aber ich meine danach - wenn es keine Dichter mehr gäbe, was dann? Gäbe es dann noch den TBK?«
»Natürlich!« Fuchspfennig sah Tigwid an wie ein begriffsstutziges Kind.
»Und wofür?«
Fuchspfennig wollte zu einer langen Antwort ausholen, doch Collonta unterbrach ihn. »Verstehst du, Tigwid, wir wollen uns zu unseren Gaben bekennen und sie mit Verantwortung tragen. Mehr noch, wir wollen sie einsetzen, um der Menschheit zu dienen. Dafür müssen wir erst mal die Dichter beseitigen.«
»Danach«, fuhr Fuchspfennig fort und tippte mit dem Löffel in die Luft, »werden wir uns da nützlich machen, wo unsere Gaben am wirkungsvollsten eingesetzt werden können: in der Regierung.«
»Denk mal darüber nach, welche Sicherheit wir dem Volk bieten könnten«, sagte Collonta, als er Tigwids perplexen Blick bemerkte. »Die Fähigkeiten der Geisterherren, der Grüne Ring, Visionen wie die von Bonni, das sind Kräfte, die dem Staat zur Verfügung stehen sollten.«
»Die Leute würden es mit der Angst zu tun bekommen, glaube ich«, gab Tigwid zu bedenken. »Wenn plötzlich die ganze Regierung auf Zauberei basiert ... ich meine natürlich, auf einer unerforschten Wissenschaft.«
»Stimmt genau«, pflichtete Bonni ihm leise bei. »Die Zyniker würden denken, unsere Gaben seien bloßer Hokuspokus, die Religiösen würden denken, wir wären mit dem Teufel im Bunde ... und die Realisten hätten Angst, dass wir unsere Gaben missbrauchen.«
»Papperlapapp«, sagte Zhang, und eine kleine Zornesfalte erschien zwischen ihren Brauen. »Die Dichter missbrauchen ihre Gaben, aber gute Motten sind gute Menschen. Erasmus würde sich nie von der Macht verleiten lassen, sonst hätte er das längst schon getan, nicht wahr?« Sie wandte sich Collonta zu. »Dabei sitzt er hier mit uns in einem Dreckloch, mit nichts als den Klamotten, die er am Leib trägt, und einer ollen Blechschüssel in der Hand, während Morbus wie ein König lebt.«
»Eben«, sagte Collonta verdrießlich. »Ein guter Mensch kann seine Selbstsucht überwinden und ans Wohl aller denken. Vor allem wenn ihm die Mittel zur Verfügung stehen, wirklich etwas zu bewirken. Und falls die Leute schreiend weglaufen, wenn wir ihnen unsere Dienste anbieten, nun, dann muss man sie vielleicht ein wenig zu ihrem Glück zwingen, indem -«
Loo unterbrach ihr Gespräch mit einem heiseren Ruf. Sie hatte sich kerzengerade aufgesetzt und ihre Augen rollten.
»Und wenn du fertig bist ... dann bist du wirklich eine Dichterin. Das erste weibliche Mitglied, wenn man es genau nimmt, da Nevera nie selbst ein Buch geschrieben hat.«
»... Loo?« Ängstlich berührte Fredo ihre Schultern. »Hörst du mich?«
»Nein, lass sie«, zischte Collonta, richtete sich auf und kam näher. »Das war eine Erinnerung an die Dichter! Sie hat den letzten Satz wiederholt, den sie vor dem Eingriff aufgeschnappt hat!«
Gebannt starrten alle Loo an. Dann sagte sie noch einmaclass="underline" »... wirklich eine Dichterin. Das erste weibliche Mitglied, wenn man es genau nimmt, da Nevera nie selbst ein Buch geschrieben hat. Apolonia! Ich heiße Apolonia! Ich bin nicht Loreley!«
Ihr Kopf nickte zur Seite und sie fiel bewusstlos in Fredos Arme. Entsetzt starrte er sie an, dann wandte er sich mit glänzenden Augen zu Collonta um. »Was war das? Das war nicht Loo!«
Collonta fuhr sich zitternd über die Stirn. »Nun ist sie also wirklich eine von ihnen geworden. Der Dichter, der Loo ihre Gabe geraubt hat ... das war Apolonia.«
War es möglich? Konnten die Dichter jemanden so stark beeinflussen, dass er einen anderen Menschen bewusst zerstörte? Tigwid konnte, er konnte nicht glauben, dass Apolonia etwas so Schreckliches getan hatte. Trotzdem: Er brauchte Gewissheit.
Nachts wälzte er sich hin und her. Das kleine Feuer im Raum warf unruhige Schatten, und Collonta, Fredo und Fuchspfennig, die bei Loo saßen und miteinander flüsterten, hielten ihn wach. Schließlich stand er auf und setzte sich zu ihnen.
»Ich habe einen Entschluss gefasst«, sagte er langsam und merkte, dass es wirklich so war. »Ich muss Apolonia sehen. Ich muss wissen, was passiert ist.«
Fuchspfennig riss die Augen auf. »Zu spät! Sie ist eine Dichterin, hat sich Loos Gabe angeeignet, und du bist nicht mal ein Geisterherr. Sie wird dich überwältigen, mit links.«