Выбрать главу

»Sie kennt mich! Wir waren ... wir sind Bekannte. Sie wird mir nichts tun. Aber zuerst muss ich sie finden.« Er drehte sich Collonta zu. »Wollen Sie mir helfen?«

Der alte Geisterherr schwieg eine Weile. Der Flammenschein ließ die Falten um seine Augen tiefer wirken und leuchtete kalt und ruhelos in seinen Augen. »Sie hat sich verändert, Tigwid. Dein Mut ist bewundernswert, doch ich fürchte, mit Worten wirst du nichts mehr bewirken können. Jedenfalls nicht mit den Worten, über die du verfügst.«

Ohne darauf einzugehen, sagte Tigwid: »Ich brauche den Grünen Ring. Bitte lassen Sie mich ihn benutzen. Und ich werde Apolonia finden, wie Sie Loo gefunden haben.«

Collonta schüttelte den Kopf. »Man kann nur an Orte, die man kennt, und da sich die Dichter höchstwahrscheinlich in einem Versteck befinden, das du noch nie betreten hast, ist die Sache aussichtslos. Was Loo betrifft, so konnten wir sie nur finden, weil sie innerhalb der letzten Stunden an Fredo, mich oder einen anderen von uns, der im Grünen Ring war, gedacht hat. Es bedarf des geistigen Einverständnisses der Person, die du aufsuchen möchtest: Nur wenn ihre Gedanken bei dir waren, wirst du zu ihr finden können.«

Tigwid biss sich auf die Unterlippe. »Einen Versuch ist es wert.«

»Dann komme ich mit«, sagte Fredo plötzlich. Seine Augen waren so hasserfüllt, dass Tigwid unwillkürlich zurückwich. »Wenn die Möglichkeit besteht, die Person zu stellen, die Loo das angetan hat, dann...« Er konnte nicht weitersprechen und ballte die Fäuste.

»Ja...«, murmelte Tigwid. »Ich, ähm, sollte es aber vielleicht erst allein versuchen. Meint ihr nicht - vielleicht öffnet der Grüne Ring sich nicht, wenn jemand dabei ist, den sie nicht kennt.«

Collonta erkannte sehr wohl, dass das nur eine Ausrede war, um Apolonia vor Fredos Zorn zu schützen, doch er zuckte lediglich die Schultern. »Wenn es dein Wunsch ist, Tigwid, werde ich es dir zeigen.« Er stützte sich auf seinen Stock und wies auf die gemalte Tür an der Wand.

Trotz ihrer Müdigkeit konnte Apolonia jetzt nicht schlafen - das war unmöglich. Der Tag war viel zu aufwühlend gewesen. Und immer wenn sie versuchte, den Strom ihrer Gedanken zu stoppen, die sich weiter und weiter fortsetzten wie fallende Dominosteine, kam ihr eine Erinnerung aus Loreleys Gedächtnis zugeflogen. Es waren nur ganz einfache kleine Szenen, die sie vergessen hatte ins Buch zu schreiben: wie Loreley am Vortag durch die Straßen geschlendert und einer Gauklertruppe begegnet war, wie das teure Glas aussah, das sie als Kind einmal hatte fallen lassen, und ein streunender Hund, der sie eines Morgens angekläfft hatte. Die Bilder und Geräusche der Erinnerungen durchzuckten sie, als wären es ihre eigenen, und brachten Apolonia immer wieder durcheinander. Stöhnend fragte sie sich, wie lange dieser verwirrende Zustand anhalten würde.

Wenigstens eine gute Sache hatte der heutige Tag gebracht: die Gabe der Terroristin.

Verblüfft schüttelte Apolonia den Kopf, während sie sich im Schrankspiegel musterte. Ihr offenes Haar geriet durch die Kopfbewegung in Schwung und tanzte durcheinander. Dabei blieb es senkrecht in der Luft schweben. Apolonia hatte Macht über die Schwerkraft.

Sie beschloss, ihre Haare wieder fallen zu lassen, und sie fielen. Nun stieg sie auf die Zehenspitzen und nahm sich vor, selbst abzuheben. Aber sie fühlte sich nur ein bisschen leichter - was auch daran liegen konnte, dass sie ihr Abendessen noch nicht angerührt hatte. Offenbar war ihre neue Mottengabe nicht mächtig genug, um ihren ganzen Körper schweben zu lassen. Sie erinnerte sich an ihre Mutter und die geheimen Spiele im Salon ... damals war die Kraft von mehreren Motten vonnöten gewesen, damit Magdalenas Körper vom Boden hochstieg. Schließlich wog ein Mensch erheblich mehr als ein paar Haare.

Dennoch war die neue Gabe unglaublich. Apolonia konnte leichte Gegenstände bewegen. Und das war bloß das, was sie schon ausprobiert hatte.

»Wie funktioniert das nur«, murmelte sie und beobachtete fasziniert, wie sich ihr Brieföffner auf dem Schreibtisch senkrecht aufstellte. Zum ersten Mal konnte sie nachvollziehen, warum Tigwid den Mottengaben auf den Grund hatte gehen wollen. Bei dem Gedanken an ihn verblasste Apolonias Freude und sie ließ den Brieföffner sinken.

Immer wieder hatte Tigwid sich in ihren Kopf geschlichen. Dass er zum TBK gehört hatte - und es höchstwahrscheinlich noch tat -, brannte wie Säure. Während sie Gewissensbisse plagten, weil sie ein läppisches Verbrecherloch an die Polizei verraten hatte, war er der wahre Verräter gewesen; er hatte die ganze Zeit geplant, sie zu ihren Mördern zu führen.

Laute Stimmen des Protests folgten auf diesen Gedanken, doch Apolonia wollte nicht auf sie hören. Man durfte niemandem vertrauen, nicht einmal seinen eigenen Gefühlen. Nur der Verstand war zuverlässig. Der Verstand war das Einzige, das nicht manipuliert werden konnte... jedenfalls nicht ihr Verstand.

Als Apolonia sich wieder ihrem Spiegelbild zuwandte, entdeckte sie ein grünliches Flimmern hinter sich im Spiegel. Sie fuhr herum - tatsächlich, in der Luft hing ein grünes Flackern, das zu einem runden Etwas heranwuchs. Erschrocken trat sie zwei Schritte zurück und stieß gegen den Schrank. Hatte sie die Erscheinung heraufbeschworen? Wenn sie ihre neue Gabe nicht kontrollieren konnte ...

Und plötzlich erkannte sie die grüne Tür aus der Wohnung des TBK wieder. Automatisch riss sie die Hand hoch und der Brieföffner schoss vom Schreibtisch auf die Erscheinung zu. Kurz davor kam ihre notdürftige Waffe schwebend zum Stillstand, um zu erwarten, wer sie überfallen wollte. Einen Herzschlag lang flimmerte die Tür in der Luft wie eine Fata Morgana. Dann wurde der Türknauf gedreht. Langsam öffnete sich die Tür... und ins Zimmer trat ein Junge in zerschlissenen Kleidern.

Tigwid.

Das matte Licht des Kamins umzeichnete sein Profil. Er sah älter aus, irgendwie erschöpft und weniger beschwingt als früher. Kurz irrte sein Blick zu dem Brieföffner, dann starrte er wieder Apolonia an. Sekunden der Stille verstrichen, in denen sie einander nur ansehen konnten.

»Wieso hast du es getan?«, fragte er schließlich leise.

Apolonia zwang sich, in ihm das zu sehen, was er wirklich war: ein gefährlicher Terrorist. Ihr Feind. Er wollte sie mit seinem plötzlichen Auftauchen verwirren, doch auf ihn fiel sie nicht mehr herein - dass er mit der magischen Tür des TBK erschienen war, bestätigte ihren düsteren Verdacht endgültig!

»Du ...«, brachte sie schwer atmend hervor. »Verschwinde!«

Sein Gesicht versteinerte sich. »Dann ist es also wahr. Weißt du, dass du Freund und Feind verwechselst?«

»Das habe ich einmal getan. Jetzt weiß ich, wer mein angeblich so guter Freund wirklich war... nämlich eine Motte, der die Gabe herausgeschrieben werden musste!«

»Ich bin immer noch eine Motte«, erwiderte Tigwid.

»Ja, offenbar hat Ferol bei dir einen ganzen Haufen Boshaftigkeit übersehen.« Apolonia beobachtete, wie er vor Zorn die Lippen zusammenpresste und dann scharf die Luft ausstieß. Der Brieföffner zitterte leicht, doch Tigwid schenkte ihm keine Beachtung.

»Und was war mit Loo? Sie war vollkommen unschuldig! Sie hatte nichts Böses, das du ihr hättest stehlen können. Gott, Apolonia. Wie konntest du das nur tun?«

Der Raum zwischen ihnen schien zu einer meilenweiten Kluft zu wachsen.

»Verschwinde«, wiederholte Apolonia kaum hörbar. Tigwid regte sich nicht. Dann kam er näher.

Augenblicklich zischte der Brieföffner auf ihn zu. Tigwid rang nach Atem, als die kalte Spitze seine Kehle berührte. Mit der Hand wollte er den Brieföffner wegfegen, doch der blieb wie festgefroren auf der Stelle; nur Apolonia schwankte und stieß mit der Schulter gegen die Schranktür.

»Ein Schritt und ich werde dich umbringen«, flüsterte sie schwer.

Sein Blick brannte sich in sie hinein. »Tu’s doch.« Er setzte einen Fuß nach vorne. Ein Zucken ging durch sein Gesicht, als sich der Brieföffner in die Haut bohrte. Plötzlich ballte er die Fäuste und stieß einen verzweifelten Laut aus. »Was ist mit dir los?! Erkennst du mich nicht wieder, bist du blind?! Wir hatten ein gemeinsames Ziel!« Obwohl der Brieföffner sich nicht bewegte, kam er noch ein Stück näher. Er blinzelte und verzog die Augenbrauen. »Du hast mein Vertrauen einmal enttäuscht. Bitte sag mir, dass du es nicht noch mal getan hast. Ich ... ich glaube nicht, dass du aus freien Stücken grausame Dinge tust, und wenn du mir nur die kleinste Hoffnung lässt - dann werde ich meinen Glauben an dich nicht verlieren! Dann werde ich alles tun, um dir zu helfen. Ich helfe dir ... verstehst du?«