»Ich brauche deine Hilfe nicht!«, schrie Apolonia, und ihre Stimme zitterte. Der Brieföffner rutschte ab und riss ein Loch in Tigwids Pullover. Keuchend wich er zurück. »Du und ich, wir sind Feinde! Wenn ich dich das nächste Mal sehe, dann werde ich dich umbringen.«
Tigwid fuhr sich über Hals und Brust und nickte zerstreut, ohne sie mehr ansehen zu können. »Mach dir keine Sorgen. Mich siehst du nie wieder.« Dann wischte er durch die Luft, der Grüne Ring erschien und Tigwid verschwand mit einem einzigen Schritt.
Apolonia lehnte am Schrank. Sie war mutterseelenallein.
Hätte er sich noch einmal umgedreht, hätte er gesehen, dass nicht nur er, sondern auch sie gegen die Tränen ankämpfte.
Tage dazwischen
Der Kampf der Gesetzeshüter und -brecher sorgte in den folgenden Wochen für Schlagzeilen, die die Auflage des Stadtspiegels in die Höhe trieben. Atemlos verfolgte die ganze Stadt, wie die Polizei die Jagd auf den Treuen Bund eröffnete. Fast täglich wurden geheime Stützpunkte gefunden und Verdächtige festgenommen; die höchsten Politiker lobten den Erfolg in der Verbrechensbekämpfung, während der Treue Bund den Eifer seiner Gegner mit demselben Enthusiasmus erwiderte. Brände wurden gelegt, sogar in zwei Kirchen und im Justizgebäude; die Verbrecher wurden zwar meistens noch am Tatort gefasst, doch sie schwiegen wie Tote. Die eiserne Entschlossenheit der Terroristen sorgte für großes Entsetzen. Die Bevölkerung lebte in ständiger Angst, einem Brandanschlag zum Opfer zu fallen oder ihre Söhne und Töchter durch eine Entführung zu verlieren; Haustüren wurden doppelt verschlossen, Kinder verschwanden von der Straße und sogar aus den Schulen, und täglich gingen neue Hinweise bei der Polizei ein, weil jemand irgendeinen verdächtigen Fremden gesehen hatte.
Niemand ahnte, dass die Brände des TBK durchaus harmlos waren im Vergleich zu den Verbrechen, die sie vor ihrem Zusammentreffen mit den Dichtern hätten begehen können. Im Prinzip war das Vorgehen der Dichter ebenso einfach wie effektiv: Morbus und seine Lehrlinge trieben die Motten des Treuen Bunds auf und brachten sie nach Caer Therin, wo ihnen ihre Gaben genommen wurden. Dann setzten sie die entmachteten Feinde wieder in der Stadt aus, wo sie von der Polizei gefunden und für verwirrte Opfer des TBK gehalten wurden. Manchmal aber schrieben die Dichter alles aus den feindlichen Motten heraus und pflanzten einen einzigen Gedanken in ihren leer gefegten Verstand: nämlich einen Brand zu legen. Dadurch hatte die Polizei Grund genug, die Motten festzunehmen und ihre Bemühungen zu verstärken. Und im Vergleich zu der Zerstörung, die der TBK in Wahrheit hätte anrichten können, waren Brandstiftungen eine sehr milde Alternative.
Trotzdem fragte Apolonia sich manchmal, wieso der TBK seine Macht nicht einsetzte, um einen Vorstoß zu wagen. Schließlich musste es sehr viele Mitglieder geben - die Dichter trieben in zwei Wochen sieben Bundmotten auf - und doch hielten sie sich verborgen. Als Apolonia ihre Tante am Tag vor Weihnachten darauf ansprach, stellte Nevera behutsam die Teetasse ab und lächelte.
»Ja, du hast recht. Wir haben fast die Hälfte aller Bundmotten unschädlich machen können und im Moment halten sie sich mit ihren Angriffen zurück. Aber nicht alle Gefahr, die vom Treuen Bund ausgeht, ist so sichtbar wie ein Feuer. Sie schleusen ihre Leute in die Regierung ein, manipulieren Staatsoberhäupter und die wichtigsten Köpfe der Polizei; wir Dichter haben noch immer alle Hände voll zu tun, ihre Intrigen aufzudecken und im Stillen zu vereiteln. Die größten Kriege finden nicht auf dem Schlachtfeld statt, sondern in den Hinterzimmern der Staatsgebäude.«
Apolonia nippte an ihrem Tee und beobachtete das Schneegestöber vor den Fenstern. Das silbrige Klirren von Schmuckkugeln hing in der Luft, während zwei Diener den Weihnachtsbaum im Salon behängten. Der Kamin gab ein kaum wahrnehmbares Wummern von sich. Der Frieden bedrückte Apolonia merkwürdigerweise und ihr war ganz wehmütig zumute.
»Oh«, sagte Nevera mit einem Blick auf die Uhr auf dem Kaminsims. »Der Schneider für unsere Festkleider kommt in einer halben Stunde. Silvester wird aufregend!«
Apolonia sank tiefer in ihren Sessel.
Mit jedem Tag wurde die Laune der Bundmotten schlechter. Sie versuchten, die Zeit mit Kartenspielen und dem Üben ihrer Gaben totzuschlagen, doch nach zwei vertriebenen Stunden kamen ihnen die nächsten vier umso länger vor. Als Heiligabend bevorstand, erreichte die Stimmung ein Tief; wegen des Schneetreibens draußen mussten die meisten im Untergrund bleiben und suchten nach einem geeigneten Vorwand, um den Grünen Ring zu benutzen. Tigwid war schon zweimal mit Zhang durch die Tür getreten, einmal um auf dem Markt Karotten zu kaufen, das andere Mal, um die Zeitung zu besorgen. Dabei hatte Bonni sie begleitet und war fast eine Stunde an den Schaufenstern der Geschäfte vorbeigeschlendert und hatte sich sogar Fahrradhupen und Angelhaken angesehen, um ihre Rückkehr hinauszuzögern. Collonta hatte sie zwar gebeten, das Versteck nur zu verlassen, wenn sie keine andere Wahl hatten, und danach so rasch wie möglich wieder zurückzukommen, aber die ewige Dunkelheit schlug ihnen noch mehr aufs Gemüt als die Gefahr, wenn sie draußen waren. Noch dazu fehlte ihnen Loos sanfte Art, mit der sie früher die kleinen Kabbeleien unter ihnen geschlichtet hatte. Das Einzige, was Loo jetzt noch von sich gab, waren genau zwei Sätze:
»Und wenn du fertig bist ... dann bist du wirklich eine Dichterin. Das erste weibliche Mitglied, wenn man es genau nimmt, da Nevera nie selbst ein Buch geschrieben hat.«
Am Weihnachtsabend, nachdem sie zur Feier des Tages eine zusätzliche Erbsendose aufgemacht und das Feuer bis auf ein paar Kerzen gelöscht hatten, sah Loo Fredo das erste Mal seit ihrem Erwachen richtig in die Augen und seufzte plötzlich so glücklich wie ein Kind. »Ach ... das hast du für mich geflochten? O Fredo, ich dich auch!«
Er starrte sie an, als hätte sie ihm einen Stern vom Himmel gepflückt. Mit zitternden Fingern berührte er ihr Handgelenk, an dem sie einen geflochtenen Reif trug. Dann schloss er sie in die Arme, und die beiden hielten sich umschlungen, der eine lächelnd, der andere weinend.
Tigwid beobachtete sie über den Rand seines Pokerblattes hinweg. Sie bewegten sich keinen Zentimeter voneinander, als würde die Zeit nicht mehr für sie existieren, und blieben wie versteinert in ihrer Umarmung. Schließlich seufzte Tigwid und warf seine Karten hin. »Ich bin draußen.« Das war mit Abstand das deprimierendste Weihnachtsfest seit Langem. Zudem hatte er die Hälfte seines Geldes an Zhang verloren, die trotz ihres Münzhaufens nicht viel fröhlicher aussah. Kein Wunder. Der Untergrund bot nicht gerade viele Möglichkeiten, um sich mit Geld eine schöne Zeit zu machen.
»Ich hab auch keine Lust mehr«, sagte sie und warf ihre Karten hin - Tigwid schielte auf ihre zwei Paare. »Wollen wir mal gucken, ob Erasmus und Rupert da sind? Vielleicht trinken wir alle eine heiße Schokolade im Arbeitszimmer, da ist es viel gemütlicher als hier.«